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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
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ignoriert – und er hat ihn geschlagen, wenn er das
Sir
am Ende eines Satzes vergessen hatte. Rechter Wärter macht sich gefasst – dies ist der Augenblick, in dem Gefangene sich gern etwas von der Seele reden. Aber Sutton lächelt, als würde sich etwas in ihm öffnen wie eine Blume. Frohe Weihnachten, Kleiner.
    Der Kopf des Wärters schnellt zurück. Er wartet eine Sekunde. Zwei. Ja. Frohe Weihnachten, Willie. Alles Gute für dich.
    Es ist kurz vor acht.
    Rechter Wärter stößt die Tür auf, und hinaus marschiert Willie Sutton.
     
    Ein Fotograf von
Life
ruft: Da ist er! Drei Dutzend Reporter strömen zusammen. Die schrägen Vögel und Ghule drängen vor. Fernsehkameras schwenken auf Suttons Gesicht. Lichter, heller als Suchscheinwerfer, blenden seine azurblauen Augen.
    Wie fühlt es sich an, frei zu sein, Willie?
    Werden Sie jemals wieder eine Bank ausrauben, Willie?
    Was haben Sie Arnold Schusters Familie zu sagen?
    Sutton zeigt auf den Vollmond und sagt: Schaut mal.
    Drei Dutzend Reporter, zwei Dutzend Zivilisten und ein Erzverbrecher blicken in den Nachthimmel. Zum ersten Mal seit siebzehn Jahren sieht Sutton den Mond wieder von Angesicht zu Angesicht – es verschlägt ihm den Atem.
    Schaut mal, sagt er wieder. Schaut euch die schöne klare Nacht an, die Gott für Willie gemacht hat.
    Und dann sieht Sutton hinter den drängelnden Reportern einen Mann mit kürbisfarbenem Haar und auffälligen rötlich braunen Sommersprossen an einem Auto lehnen, einem roten Pontiac GTO , Baujahr 1967 . Sutton winkt, und Donald eilt herbei. Sie geben sich die Hand. Donald schiebt mehrere Reporter beiseite und führt Sutton zu dem GTO . Als Sutton es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hat, knallt Donald die Tür zu und versetzt einem weiteren Reporter einen Stoß, nur so zum Spaß. Er rennt um das Auto herum, springt hinters Steuer, tritt das Gaspedal durch. Und schon sind sie unterwegs und wirbeln eine Welle aus nassem Schlamm, Schnee und Salz auf. Sie spritzt den Reporter von
Newsday
voll. Sein Gesicht, seine Brust, sein Hemd, seinen Mantel. Er blickt auf seine Kleider hinab, dann hoch zu seinen Kollegen.
    Wie gesagt, ein Gauner.
     
    Sutton schweigt. Und Donald lässt ihn schweigen. Donald weiß Bescheid. Donald hat Attica vor neun Monaten verlassen. Sie starren auf die vereiste Straße und den gefrorenen Wald, und Sutton versucht seine Gedanken zu ordnen. Nach ein paar Kilometern fragt er Donald, ob er besorgen konnte, was sie am Telefon besprochen hatten.
    Ja, Willie.
    Lebt sie noch?
    Ich weiß es nicht. Aber ich hab ihre letzte bekannte Adresse rausgefunden.
    Donald reicht ihm einen weißen Umschlag. Sutton hält ihn wie einen Kelch. Seine Erinnerung setzt ein. An Brooklyn. An Coney Island. An 1919 . Noch nicht, mahnt er sich, noch nicht. Er stellt seinen Verstand ab, etwas, das er im Laufe der Jahre ganz gut gelernt hat. Zu gut, wie ein Gefängnispsychiater einmal sagte.
    Er steckt den Umschlag in die Brusttasche seines neuen Anzugs. Zwanzig Jahre ist es her, dass er eine Brusttasche hatte. Es war immer seine liebste Tasche, die Stelle, wo er die wichtigen Sachen aufbewahrte. Verlobungsringe, emaillierte Zigarettenetuis, lederne Brieftaschen von Abercrombie. Revolver.
    Donald fragt, wer sie ist und warum Sutton ihre Adresse braucht.
    Das sag ich dir lieber nicht.
    Zwischen uns gibt es doch keine Geheimnisse, Willie.
    Zwischen uns gibt es nur Geheimnisse, Donald.
    Ja. Du hast recht, Willie.
    Sutton betrachtet Donald und erinnert sich, warum Donald im Knast war. Einen Monat nachdem er seine Arbeit auf einem Fangschiff verloren und zwei Wochen nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, sagte ein Mann in einer Bar zu ihm, er sehe fertig aus. Donald, der sich von dem Mann beleidigt fühlte, schlug fest zu, und der Mann beging den Fehler zurückzuschlagen. Donald, ein ehemaliger College-Ringer, nahm ihn in den Würgegriff und brach ihm das Genick.
    Sutton schaltet das Radio ein. Er sucht Nachrichten, findet aber keine und bleibt schließlich bei einem Musiksender hängen. Die Musik ist stimmungsvoll, lebhaft – anders.
    Was ist das, Donald?
    Die Beatles.
    Das sind also die Beatles.
    Sie schweigen eine ganze Weile. Sie hören Lennon zu. Der Text erinnert Sutton an Ezra Pound. Er tätschelt die Einkaufstüte auf seinem Schoß.
    Donald schaltet den GTO runter und dreht sich zu Willie. Hat der Name in dem Umschlag irgendwas mit du weißt schon wem zu tun?
    Sutton sieht Donald an. Wem?
    Du weißt schon. Schuster?
    Nein.
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