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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
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sagen, wegen heute. Es ist ein Uhr morgens.
    Ach wirklich, sagt Sutton. Für ihn hat Zeit jede Bedeutung verloren. Nicht, dass sie jemals eine hatte.
    Sie wissen ja, Ihre Anwältin hat zugestimmt, dass Sie uns die Exklusivrechte an Ihrer Geschichte geben. Und wir hoffen natürlich, dass wir Ihre alten Reviere besuchen, die Schauplätze Ihrer, hm. Verbrechen.
    Wo bleiben wir heute Nacht?
    Im Plaza.
    Aufwachen in Attica, einschlafen im Plaza. Das ist Amerika.
    Aber, Mr Sutton, nach dem Einchecken muss ich Sie wirklich bitten, alles, was Sie wollen, über den Zimmerservice zu bestellen und keinesfalls das Hotel zu verlassen.
    Sutton mustert Schreiber. Der Kleine ist noch keine fünfundzwanzig, schätzt Sutton, aber angezogen wie ein alter Knacker. Trenchcoat mit Pelzkragen, dunkelbrauner Anzug, Kaschmirschal, Schnürstiefel mit Querkappe. Er ist angezogen, denkt Sutton, wie ein verfluchter Banker.
    Meine Ressortleiter möchten, dass wir Sie den ersten Tag nur für uns haben, Mr Sutton. Das heißt, niemand sonst darf Sie zitieren oder fotografieren. Niemand darf erfahren, wo Sie sind.
    Mit anderen Worten, Kleiner, ich bin dein Gefangener.
    Schreiber lacht nervös. Nein, so würde ich das nicht sagen.
    Aber ich stehe unter deiner Obhut.
    Nur für einen Tag, Mr Sutton.

Zwei
    Tageslicht durchflutet die Suite.
    Sutton sitzt in einem Ohrensessel und beobachtet, wie der andere Ohrensessel und das große Bett sichtbar werden. Er hat nicht geschlafen. Fünf Stunden sind seit dem Einchecken vergangen, und er ist mehrmals eingenickt, aber mehr nicht. Er zündet sich eine Zigarette an, die letzte in der Packung. Zum Glück hat er noch zwei Packungen beim Zimmerservice bestellt. Er raucht nur Chesterfield. In seiner Zelle hatte er immer eine Feldkiste mit Chesterfields. Den Rauch spült er mit dem eisgekühlten Champagner hinunter, den er ebenfalls bestellt hat. Er steckt die Zigarette in den Mund und hält den noch immer ungeöffneten weißen Umschlag ins Tageslicht. Er wird ihn erst öffnen, wenn er bereit dazu ist, zum richtigen Zeitpunkt, auch wenn das heißt, dass er es vielleicht gar nicht mehr erlebt.
    Sein Körper reagiert genau so, wie der Arzt es ihm für das Endstadium prophezeit hatte. Das schraubstockartige Gefühl im Kreuz, die taub werdenden Zehen und Beine. Klaudikation nannte es der Arzt. Am Anfang hast du Probleme beim Gehen, Willie. Dann hörst du einfach auf.
    Womit, Doc?
    Mit allem, Willie. Du hörst einfach auf.
    Heute wird er also sterben. In ein paar Stunden, vermutlich noch vor dem Mittagessen, auf alle Fälle vor Einbruch der Dunkelheit. Er weiß es so sicher, wie er früher immer alles wusste, zum Beispiel, ob jemand in Ordnung war oder ein Verräter. Hundertmal ist er dem Tod entwischt, aber heute nicht. Mit seinem Abschiedsbrief hat er den Tod hereingebeten. Und wenn man den Tod erst mal einlässt, geht er nicht immer wieder weg.
    Langsam dreht er den Umschlag um und schüttelt ihn wie ein Streichholz, das er auslöschen will. Er sieht das mit Donalds Gekritzel vollgeschriebene Blatt Papier innen. Er sieht Bess’ Namen oder bildet es sich zumindest ein. Es wäre nicht das erste Mal, dass er Bess sieht, wenn sie gar nicht da ist. Ob sie schon von seiner Freilassung gehört hat? Er stellt sich vor, wie sie vor ihm steht, beschwört sie herauf. Sie in einer Suite im Plaza heraufzubeschwören ist einfacher als in einer Zelle in Attica. Ach Bess, flüstert er. Ich darf nicht sterben, bevor ich dich sehe, meine Herzblume. Ich darf nicht.
    Ein schwaches Klopfen lässt ihn hochfahren. Er steckt den weißen Umschlag in die Brusttasche und humpelt zur Tür.
    Schreiber. Sein dunkelbraunes Haar ist nass, ordentlich gescheitelt, und sein frisch gewaschenes Gesicht ist rosa und weiß. Vom Hals aufwärts wie die Farben einer Fürst-Pückler-Schnitte. Er trägt einen anderen Bankeranzug und denselben Trenchcoat mit Pelzkragen. In einer Hand hält er eine anwaltsmäßige Aktentasche, in der anderen eine Pappschachtel mit Bagels und Kaffee.
    Guten Morgen, Mr Sutton.
    Frohe Weihnachten, Kleiner.
    Haben Sie telefoniert?
    Nein.
    Ich dachte, ich höre Stimmen.
    Ach was.
    Schreiber lächelt. Seine Zähne sehen noch pepsodentiger aus. Gut, sagt er.
    Sutton kann sich immer noch nicht an Schreibers Namen erinnern oder für welche Zeitung er arbeitet, und ihn jetzt danach zu fragen, scheint ihm irgendwie zu spät. Außerdem ist es ihm egal. Er tritt beiseite. Schreiber geht zu einem Schreibtisch am Fenster und stellt die
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