Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
Rockefeller. Der mit seiner Buddy-Holly-Brille und der chronischen Unentschiedenheit. Gouverneur Hamlet, sagt der Reporter von UPI und grinst in Richtung Mauer. Bringt er es oder nicht?
    Er brüllt in Richtung Dornröschenschloss: Mach zu oder komm runter vom Pott, Nelson! Stuhlgang oder Abgang!
    Die Reporter nicken, grummeln, nicken. Sie werden unruhig, genau wie die Häftlinge auf der anderen Seite der neun Meter hohen Mauer. Die Häftlinge wollen raus, die Reporter wollen rein, und Schuld geben beide Gruppen der Polizei. Frierend, müde, wütend und von der Gesellschaft geächtet, stehen beide Gruppen kurz vor dem Aufruhr. Und beide sehen nicht den schönen Mond, der langsam über dem Gefängnis aufgeht.
    Ein Vollmond.
     
    Die Wärter führen Sutton von seiner Zelle in Block D durch eine Gittertür in einen Tunnel und zur Kommandozentrale – von den Häftlingen Times Square genannt –, die zu allen Zellenblocks und Büros führt. Vom Times Square wird Sutton zum Büro des stellvertretenden Gefängnisdirektors gebracht. Es ist das zweite Mal, dass er in diesem Monat zum Vize gerufen wird. Letzte Woche teilte man ihm mit, dass sein Begnadigungsgesuch abgelehnt worden sei – ein böser Schlag. Sutton und seine Anwälte waren sich ihrer Sache so sicher gewesen. Sie hatten die Fürsprache prominenter Richter gewonnen, hatten Schwachstellen in den Schuldsprüchen entdeckt und Briefe von Ärzten gesammelt, die attestierten, dass Sutton todkrank war. Doch die dreiköpfige Begnadigungskommission sagte nein.
    Der Vize sitzt an seinem Schreibtisch und schenkt sich die Mühe aufzublicken. Hallo, Willie.
    Hallo, Sir.
    Sieht so aus, als hätten wir Startfreigabe.
    Sir?
    Der Vize deutet mit wedelnder Hand über die verstreuten Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das sind deine Papiere. Du wirst entlassen.
    Sutton blinzelt und massiert sein Bein. Ent-
lassen
? Von wem, Sir?
    Der Vize blickt auf und seufzt. Vom Leiter der Gefängnisbehörde. Oder von Rockefeller. Oder von beiden. Albany hat noch nicht entschieden, wie sie die Sache verkaufen wollen. Als Ex-Banker weiß der Gouverneur nicht so recht, ob er seinen Namen druntersetzen soll. Aber der Leiter der Gefängnisbehörde will sich nicht über den Begnadigungsausschuss hinwegsetzen. So oder so, sie lassen dich laufen.
    Laufen? Warum?
    Woher soll ich das wissen. Ist mir scheißegal.
    Und wann, Sir?
    Heute Abend. Wenn das Telefon aufhört zu klingeln und die Reporter mir nicht mehr im Nacken hängen, dass sie mein Gefängnis als privates Fernsehzimmer benutzen wollen. Wenn die verfluchten Formulare ausgefüllt sind.
    Sutton mustert den Vize. Dann die Wärter. Soll das ein Scherz sein? Nein, sie wirken ganz ernst.
    Der Vize wendet sich wieder seinen Papieren zu. Viel Glück, Willie.
    Die Wärter führen Sutton zum Anstaltsschneider. Jeder Mann, der aus einem Gefängnis im Staat New York entlassen wird, bekommt einen Entlassungsanzug, eine mindestens hundert Jahre zurückreichende Tradition. Das letzte Mal hatte man Suttons Maße für einen Entlassungsanzug genommen, als Calvin Coolidge Präsident war.
    Sutton steht vor dem dreiteiligen Spiegel des Schneiders. Ein Schock. In den letzten Jahren stand er nicht oft vor Spiegeln, und er kann nicht glauben, was er sieht. Da ist sein rundes Gesicht, das glatte graue Haar, die verhasste Nase – zu groß, zu breit, mit unterschiedlich großen Nasenlöchern –, und da ist die große rote Verdickung auf seinem Augenlid, die in jedem Polizeibericht und FBI -Flugblatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt wurde. Aber das ist nicht er – unmöglich. Sutton hatte sich immer viel auf eine gewisse Verwegenheit in seinem Äußeren eingebildet, auch in Handschellen. Und selbst in Gefängniskluft war es ihm stets gelungen, elegant und weltgewandt zu erscheinen. Jetzt dagegen, mit achtundsechzig Jahren, sieht er in dem dreiteiligen Spiegel nichts mehr von Verwegenheit, Eleganz und Weltgewandtheit. Er ist ein Strichmännchen mit Tränensäcken. Er sieht aus wie Felix der Kater. Selbst der bleistiftdünne Schnurrbart, auf den er früher so stolz war, ähnelt den Schnurrhaaren des Cartoonkaters.
    Der Schneider, mit einem grünen Maßband um den Hals, tritt zu Sutton. Er ist ein alter Italiener aus der Bronx mit zwei fingerhutgroßen Schneidezähnen. Beim Reden klimpert er mit einer Handvoll Knöpfen und Münzen in seiner Tasche.
    Sie lassen dich also raus, Willie.
    Sieht so aus.
    Wie lange warst du hier?
    Siebzehn Jahre.
    Und wann hattest
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher