Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Titel: Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
schoß. »Wir haben es mit einem Geistesgestörten zu tun, jemand, der völlig verrückt ist«, hatte sie mir leise gesagt. Dr. Frakers Blick lag auf mir, während er die Spritze aufzog. Endlich fiel der Groschen. Sie hatte die Ehe ja gar nicht führen wollen; sie hatte herausgewollt. In seiner Naivität hatte Bobby Callahan geglaubt, er könne ihr dabei behilflich sein.
    Man konnte es an seinem Gesicht und den trägen Bewegungen ablesen: Dieser Mann hatte vor, mich umzubringen. Nach den Hilfsmitteln zu urteilen, die er sich zusammengesucht hatte, hatte er nun alles, was er dazu brauchte — einen aufgeräumten Arbeitstisch mit Abfluß, Sägen, Skalpellen und einem Abfalleimer direkt darunter. Außerdem kannte er sich mit Anatomie aus und wußte, wo die Sehnen und Bänder lagen. Ich stellte mir den Flügel eines Truthahns vor, wie man ihn zurückbiegen mußte, um mit der Klinge richtig ans Gelenk zu kommen.
    Gewöhnlich weine ich, wenn ich Angst habe, und auch jetzt spürte ich Tränen aufkommen. Doch nicht vor Kummer, sondern vor Grauen. Da hatte ich schon so viele Lügen im Leben verbreitet, doch gerade in diesem Augenblick fiel mir keine einzige ein. In meinem Kopf herrschte völlige Leere. Ich stand einfach da, mit dem Röntgenbild in der Hand, und die Wahrheit, dessen bin ich mir sicher, stand mir ins Gesicht geschrieben. Meine einzige Hoffnung war, etwas zu unternehmen, bevor er es tun konnte, und zwar doppelt so schnell wie er.
    Ich sprang auf die Tür zu und fingerte an dem Griff herum. Dann riß ich sie auf und rannte in Richtung Stufen, von denen ich erst zwei, dann drei auf einmal nahm. Dabei sah ich mich um und stöhnte vor schierer Furcht. Er kam gerade zur Tür heraus, die Spritze locker in der Hand. Was mir am meisten Angst einjagte, waren seine langsamen Bewegungen, als habe er alle Zeit der Welt. Er hatte an der Stelle des Liedtextes wieder eingesetzt, an der er zuvor abgebrochen hatte. Er sang eine etwas unmelodische Version, die der von Gershwin keineswegs gerecht wurde.
    » Like a little lamb wbo’s lost in the wood... I know I could always be good...to one who’ll watch over me ... « (Wie ein kleines Lamm, das sich im Wald verlaufen hat... weiß ich, daß ich immer gut sein werde... zu jemandem, der auf mich achtgibt...)
    Schließlich erreichte ich den Treppenabsatz. Was konnte er wissen, was ich nicht wußte? Warum hielt er seine gemächlichen Bewegungen für angemessen, während ich im Fluge auf den Eingang zuschoß? Ich senkte eine Schulter und warf mich gegen die Doppeltüren, doch keine von beiden gab nach. Ich rammte sie noch einmal. Da der Eingang jetzt versperrt war, bildete er eine kleine Sackgasse. Wenn ich ihm Zeit ließ, den Flur zu erreichen, gab es keinen Fluchtweg mehr für mich. Ich kam im gleichen Moment in der Halle an, in dem er die oberste Stufe erreichte.
    Kratz, kratz. Während er weitersang, konnte ich das Kratzen seiner Schritte auf den Fliesen hören.
    »Althougb he may not be the man some girls think of as handsome, to my heart he’ll carry the key...« (Und ist er auch kein Mann, auf den die Frauen fliegen, besitzt er doch den Schlüssel zu meinem Herzen...)
    Er nahm sich noch immer Zeit. Ich wollte schreien, aber wozu? Das Gebäude war menschenleer. Es war gut verschlossen. Und dunkel, bis auf das Dämmerlicht, das vom Parkplatz hereinschien. Ich brauchte unbedingt eine Waffe. Dr. Fraker hatte immerhin seine kleine Spritze, gefüllt mit was weiß ich was für einem Zeug. Zudem war er auch noch ein kräftig gebauter Typ, und wenn er mich erst mal erwischt hätte, würde es ziemlich schlecht um mich stehen.
    Ich hastete den Flur zum früheren Krankenhausarchiv hinunter und stieß mit voller Kraft die Tür auf. Dann schnappte ich mir eine Dachlatte, fast noch im Lauf, und rannte wieder auf den Flur hinaus, mit Ziel auf das Flurende. Da mußte ein Treppenhaus sein. Da mußte es doch einfach Fenster zum Einschlagen geben, irgendeine Möglichkeit, hier rauszukommen.
    Von dem Mann, der hinter mir her war und nicht mal die Melodie halten konnte, hörte ich nur... »Won’t you tell him please to put on some speed, follow my lead, oh how I need someone to watch over me... « (So sagt ihm doch, er möge sich eilen, meiner Spur folgen, oh, wie sehr ich jemanden brauche, um auf mich achtzugeben...)
    Ich erreichte endlich das Treppenhaus, hastete nach oben und fing im Laufen an, mir meine Situation vor Augen zu führen. Unter den derzeitigen Umständen konnte er mich durchs
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher