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Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Titel: Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
Autoren: Sue Grafton
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waren. Vielleicht befanden sie sich irgendwo in einem der leerstehenden Häuser weiter oben, aber ich hatte absolut keine Lust, auf eigene Faust dort hinaufzugehen. Ich hatte Jonah nun mal versprochen, keine Dummheiten zu machen, und deshalb versuchte ich, ein braves Mädchen zu sein. Außerdem wurmte mich etwas anderes.
    Ich ging wieder zur Treppe zurück und stieg die Stufen hinab. Was murmelte die leise Stimme in meinem Hinterkopf? Sie klang, als käme sie aus einem Radio, das im Nebenraum stand. Ich konnte nur hin und wieder einige Brocken verstehen.
    Im Keller angekommen, ging ich zum Büro der Röntgenabteilung und versuchte die Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Ich holte meinen Dietrich heraus und spielte eine Weile damit. Es handelte sich um eines dieser »einbruchsicheren« Schlösser, die zwar geknackt werden können , aber eine saumäßige Anstrengung erfordern. Doch schließlich wollte ich wissen, was es da drinnen gab, also arbeitete ich geduldig weiter. Dazu nahm ich einen Satz sogenannter Kufendietriche mit willkürlich angeordneten Ritzen auf der Oberseite; die Unterseite war jeweils zu einem Oval geschliffen. Die zugrundeliegende Idee ist, daß mit Hilfe ständiger Schaukelbewegungen und der unterschiedlichen Einschnittiefen an irgendeinem Punkt alle Arretierstifte durch Zufall gleichzeitig angehoben werden und das Schloß freigeben.
    Wie beim Verstecken ist der einzige Weg zum Erfolg ein völliges Vertiefen in die Aufgabe. Ungefähr zwanzig Minuten lang stand ich da, führte den Dietrich sorgfältig ein, bewegte ihn hin und her und schob ihn mit leichtem Druck ein Stück vor, sobald sich etwas bewegt hatte. Zu guter Letzt gab das Mistding nach, und mir entfuhr ein kleiner Ausruf des Entzückens. »Hach, endlich. Mensch, toll.« Das sind genau die Dinge, die mir bei meinem Job Spaß machen. Zwar auch ungesetzlich, aber wer sollte mich schon verpfeifen?
    Ich schlich mich also in das Büro und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Es sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Büroraum: Schreibmaschinen, Telefone, Aktenschränke, Pflanzen auf den Schreibtischen und Bilder an den Wänden. Es gab auch einen kleinen Empfangsbereich, wo wahrscheinlich Patienten so lange Platz nehmen konnten, bis sie zur Röntgenaufnahme aufgerufen wurden. Ich spazierte durch einige der hinteren Räume und stellte mir das Verfahren bei Röntgenaufnahmen der Lunge und Mammographien vor. Ich stand vor den Geräten und schlug eine der Gebrauchsanleitungen auf, die ich aus dem Wagen geholt hatte.
    Ich verglich die Schaubilder mit den verschiedenen Anzeigen und Schaltern an den Röntgengeräten selbst. Mehr oder weniger ähnelten sie sich. Es gab vielleicht Abweichungen bei Baujahr, Ausführung oder Modell des jeweiligen Gerätes. Einige von ihnen sahen aus wie Material aus einem Science-fiction-Film: gewaltige Raketenspitzen an Schwenkarmen. Ich stand da, die aufgeschlagene Bedienungsanleitung auf den Armen, die Seiten an die Brust gedrückt, während ich den Tisch und die Bleischürze anstarrte, die wie der Sabberlatz eines Riesen aussah. Ich dachte darüber nach, wie man vor zwei Monaten meinen linken Arm geröntgt hatte, direkt nachdem ich angeschossen worden war.
    Es war nicht so, als sei ich urplötzlich auf jenen Gedanken gekommen. Er formte sich eher um mich herum wie Feenstaub, der nach und nach Gestalt annimmt. Bobby war doch immer allein hier draußen gewesen, genau wie ich jetzt. Und das jeden Abend, auf der Suche nach der Waffe, auf der sich Nolas Fingerabdrücke befanden. Er hatte gewußt, wer sie versteckt hatte, also mußte er sich eine Theorie über das Versteck zurechtgelegt haben. Ich mußte also annehmen, daß er die Tatwaffe gefunden hatte und deshalb umgebracht worden war. Vielleicht hatte er sie sogar in Sicherheit gebracht, aber das nahm ich eigentlich nicht an. Ich war von der Vermutung ausgegangen, daß sie noch immer irgendwo hier draußen versteckt war, und das schien mir nach wie vor durchaus plausibel. Immerhin hatte er sich einige Notizen gemacht; er hatte die Identifikationsnummer einer Leiche in sein kleines rotes Buch gekritzelt, ebenso auf ein paar Seiten eines Buches über Radiologie, das er sich besorgt hatte.
    Die Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, bildeten langsam einen Zusammenhang. Vielleicht sollte man eine Röntgenaufnahme von der Leiche machen, sagte ich zu mir selbst. Vielleicht hatte Bobby das getan, und vielleicht war das der Grund gewesen, warum er die Bleistifteintragungen in sein
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