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Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Titel: Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
Autoren: Sue Grafton
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aus und schloß das Büro hinter mir ab.
    Ich steuerte die Liege durch den Flur in die Leichenhalle zurück. Als ich gerade dabei war, Franklin auf seine frühere Ruhestätte zu heben, stach mir etwas ins Auge. Ich sah zu der nächstliegenden Reihe von Tragen hinüber. Die Hand eines Mannes ruhte ungefähr auf Augenhöhe zu mir, und etwas daran stimmte nicht. Die Leichen, die ich gesehen hatte, waren alle totenbleich gewesen, fleischfarben wie Puppenhaut, gummiartig und unecht. Diese Hand erschien mir zu rosafarben. Jetzt sah ich auch, daß die Leiche selbst nur locker mit einer Plastikplane bedeckt war. War sie überhaupt vorher schon dagewesen? Ich ging näher heran und streckte zögernd meine Hand aus. Ich glaube, ich gab dieses leicht summende Geräusch von mir, das man macht, wenn man nahe daran ist, zu schreien, sich aber noch nicht gehenlassen kann.
    Zaghaft hob ich die Plastikfolie am Gesicht an. Männlich, weiß, Mitte Zwanzig. Ein Puls war nicht mehr fühlbar, was wahrscheinlich mit der Strangulationswunde zu tun hatte, die um seinen Hals herumführte. So fest war zugezogen worden, daß die Wunde fast vollständig im Fleischwulst verschwunden und die Zunge herausgequollen war. Die Leiche war zwar kühl, aber nicht kalt. Ich hielt den Atem an und dachte schon, mein Herz würde auch aufhören zu schlagen. Ich war mir ziemlich sicher, daß ich soeben die Bekanntschaft des kürzlich verstorbenen Alfie Leadbetter gemacht hatte. In diesem Augenblick machte ich mir weniger Gedanken darüber, wer ihn umgebracht haben könnte, als vielmehr, wer den Türöffner betätigt hatte, um mich reinzulassen. Ich glaubte nicht, daß es Alf gewesen war. Plötzlich kam mir der Verdacht, daß ich die ganze Zeit über in Begleitung eines Mörders durch das menschenleere Gebäude gegangen war. Zweifellos war er immer noch hier und wartete ab, um zu sehen, was ich vorhatte, wartete ab, um mir dasselbe anzutun, was er dem unglücklichen Angestellten des Leichenschauhauses, der ihm in die Quere gekommen war, angetan hatte. So schnell ich konnte, verließ ich den Saal. Mein Herz klopfte wie verrückt und schickte Wellen der Angst durch meine elektrisierten Knochen. Die Leichenhalle war zwar beruhigend hell, doch totenstill.
    Im Geiste suchte ich bereits nach einem Fluchtweg und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Die Fenster hier unten waren von außen mit Gitterstäben gesichert, die zu eng waren, um sich durchzuquetschen. Die Außentüren waren aus dickem Glas, das mit Drähten durchzogen war. Vielleicht könnte ich da hindurchkommen, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls würde ich mich gewiß nicht dagegen werfen können, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Also mußte ich es mit der Treppe versuchen, um durch dieselben Doppeltüren zu verschwinden, durch die ich anfangs gekommen war, obwohl mir in diesem Augenblick allein schon der Gedanke, in den Flur hinauszugehen, unerträglich vorkam.
    Irgendwo über mir wurde eine Tür zugeschlagen, und ich fuhr auf. Ich hörte, wie jemand zweifellos pfeifend die Treppe herunterkam. Vielleicht jemand vom Wachdienst? Oder jemand, der nach Feierabend noch einmal zurückgekommen war? Ich konnte mich nirgendwo verstecken. Wie angewachsen starrte ich auf die Tür, als die Schritte näherkamen. Jemand blieb im Korridor stehen und sang die ersten Takte von »So-meone to watch over me«. Der Türknauf drehte sich und Dr. Fraker kam herein. Verwirrt sah er auf, als er mich erblickte.
    »Oh, hallo! Ich hatte gar nicht damit gerechnet, Sie hier anzutreffen«, meinte er. »Ich dachte, Sie hätten sich auf den Weg gemacht, um mit Kelly zu reden.«
    Ich atmete tief aus und fand meine Stimme wieder. »Das hab ich bereits getan. Vor einer Weile schon.«
    »Jesses, was ist denn los mit Ihnen? Sie sind ja weiß wie ein Gespenst?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich war gerade auf dem Weg nach draußen, als ich eine Tür schlagen hörte. Sie haben mir eine Heidenangst eingejagt.« Mitten im Satz brach meine Stimme, als sei ich gerade in die Pubertät gekommen.
    »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Er trug seine grüne OP-Kleidung. Ich sah zu, wie er zum Schrank ging und eine Schublade öffnete, aus der er Geräte herausnahm. Der Schublade darunter entnahm er eine Phiole und eine Einwegspritze.
    »Hören Sie, Doktor, es gibt da ein Problem«, begann ich.
    »Ach, tatsächlich? Was denn für eins?« Dr. Fraker drehte sich um und lächelte mich an, als mir ein Satz von Nola durch den Kopf
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