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Kells Legende: Roman (German Edition)

Kells Legende: Roman (German Edition)

Titel: Kells Legende: Roman (German Edition)
Autoren: Andy Remic
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über die schmalen Stufen zu den Zinnen …
    Die Schnitter.
    Sie waren groß, viel zu groß für Menschen, trugen dünne weiße Roben, die mit feinen Goldfäden bestickt waren und ihre knochigen, übermäßig langen Gestalten verhüllten. Ihre Gesichter waren flach, oval und vollkommen haarlos, die Augen klein und schwarz, und ihre Nasen bestanden nur aus zwei vertikalen Schlitzen, aus denen im schnellen Rhythmus eines Herzschlags ein Zischen drang. Sie hatten die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Gewänder verborgen und schritten merkwürdig federnd, fast hüpfend und dennoch gelassen aus. Ihre Köpfe schwankten auf ihren Hälsen, als sie sich herabbeugten, um die Szenerie zu betrachten. Die Reihen der regungslosen Albino-Soldaten traten ehrfürchtig etliche Schritte zurück, und obwohl die Gesichter der Männer nicht direkt Furcht zeigten, erwiesen die Albino-Krieger von Graals Eiserner Armee den Schnittern einen gehörigen Respekt. Niemand wollte ihnen in die Quere kommen. Es sei denn, man legte keinen Wert auf seine Seele.
    Der Erste blieb stehen und blinzelte kurzsichtig auf Graal hinab. Der verschränkte die Arme und lächelte humorlos. »Du bist spät dran, Hestalt.«
    Hestalt nickte, und seine Stimme klang wie das träge Seufzen des Windes, als er antwortete. »Wir haben den Eis-Rauch für die Stadt vorbereitet. Wir mussten mit Nonterrazake kommunizieren. Aber jetzt ist die Zeit gekommen. Sind deine Männer mit ihren primitiven, eisernen Waffen bereit?«
    »Meine Soldaten sind immer bereit.« Graal klang unbeeindruckt und zückte sein eigenes, schlankes Schwert. Der Schnitter zuckte nicht zusammen. Vielmehr erschien eine Hand aus den Falten seiner weißen Robe. Jeder Finger war fast dreißig Zentimeter lang und endete in einer elfenbeinern schimmernden Spitze. Der Schnitter drehte sich um, bückte sich und bohrte alle fünf knochigen Finger in den Leichnam des Garnisonskommandeurs, Oberst Yax-Kulkain. Ein saugendes Geräusch ertönte, und Graal beobachtete verbissen, wie der Körper zu schrumpfen begann, sich die Haut über die Knochen und den Schädel spannte, bis der Mann im Tod die Zähne zu fletschen schien.
    Hestalt zog seine Finger zurück und hinterließ eine winzige, verschrumpelte Hülle. Dann trat er zum nächsten toten Soldaten von Falanor. Dort wiederholte sich dieses Schauspiel, seine Finger griffen erneut in die Brust des Mannes, bis ins Herz, und wieder fuhr der Schnitter seine schreckliche Ernte ein.
    General Graal konnte diese Schändung des Fleisches nicht länger mit ansehen und brüllte einen Befehl, der über die nebelverhangenen Bastionen hallte. Eisrauch waberte um seine Knie, breitete sich aus und quoll ihm in dichten Schwaden entgegen, als er zu der Treppe ging, die in den gepflasterten Burgfried hinabführte. Sein Albino-Regiment folgte ihm schweigend, die Schwerter gezückt. Es bewegte sich wie eine Woge, mit Graal an der Spitze, in Richtung auf die gewaltigen Eichenportale, die den Weg zu einer ebenfalls gepflasterten Straße freigaben, die den Hang hinab in die Mitte von Jalder führte, in das Herz der Stadt.
    Zwei Albinos liefen voraus, schlanke Gestalten, wohlproportioniert und athletisch. Achtsam und geschmeidig glitten sie über die vereisten Pflastersteine. Die Eichenportale wurden aufgestemmt, die schweren, eisernen Angeln ächzten, und Graal drehte sich am Tor noch einmal zu den langen, gebeugten Figuren herum, die sich systematisch über die Bastionen vorwärtsbewegten. Sie saugten den toten Soldaten der Garnison von Falanor ihr Lebenselixier aus. Wie Insekten, dachte er, und suchte über die Entfernung den Blickkontakt mit Hestalt. Der Schnitter nickte einmal knapp; befehlend. Dann deutete er auf die Stadt … seine Instruktionen waren eindeutig.
    Bereite uns den Weg.
    Eisrauch sammelte sich im Hof zu einer riesigen, pulsierenden Kugel, die sich drehte und in der es silbern flackerte; plötzlich flog sie durch das Tor wie Quecksilber, dem Flügel gewachsen waren, und sauste in die Stadt hinab, dehnte sich aus, schwoll an, eine Flut aus unheimlicher Stille und gedämpftem Tod, eine Plage aus treibendem Eisrauch, welche die ahnungslose Stadt in ein Leichentuch aus Blutöl-Magie hüllte.

1
    TÖDLICHES EIS
    Kell stand am Fenster seiner niedrigen Wohnung im zweiten Stock und betrachtete melancholisch die fernen Berge. Hinter ihm verzehrten die Flammen im Kamin knisternd Kiefernscheite, und in einer Eisenpfanne auf einem Dreibein brodelte dicker Gemüsebrei. Kell hob einen
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