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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance
Autoren: H Coben
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sagen, bekam jedoch keinen Ton heraus. Dann trat ich einfach zurück und ließ ihn herein.
    »Ihr Anwalt war bei uns. Er …« Abe hielt inne und schluckte heftig. »Er hat uns alles erzählt. Lorraine und ich sind die ganze Nacht wach gewesen. Wir haben das Ganze durchgesprochen. Wir haben viel geweint. Aber ich glaube, uns war von Anfang an klar, dass es nur eine Entscheidung geben kann.« Abe Tansmore wollte weitersprechen, musste aber erst einmal schlucken. Er schloss die Augen. »Wir müssen Ihnen Ihre Tochter zurückgeben.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich schüttelte den Kopf. »Wir müssen das tun, was für sie das Beste ist.«
    »Das tue ich gerade, Dr. Seidman.«
    »Nennen Sie mich Marc. Bitte.« Ich weiß, dass das in dieser Situation eine ziemlich alberne Bemerkung war. Doch ich konnte nicht anders. »Wenn Sie Angst vor einem sich ewig hinziehenden Gerichtsprozess haben, hätte Lenny nicht…«
    »Nein, das ist es nicht.«
    Wir standen uns noch eine Weile gegenüber. Ich deutete auf den Sessel. Er schüttelte den Kopf. Dann sah er mich an. »Ich habe die ganze Nacht versucht, mir Ihren Schmerz vorzustellen. Ich glaube, ich kann es nicht. Es gibt wohl Erfahrungen, die ein Mensch erst teilen kann, wenn er sie selbst gemacht hat. Ihre gehört
vielleicht dazu. Aber Ihr Schmerz, so furchtbar er auch sein muss, hat für Lorraines und meine Entscheidung nicht den Ausschlag gegeben. Wir tun es auch nicht, weil wir uns schuldig fühlen. Rückblickend hätte uns das Ganze vielleicht seltsam vorkommen müssen. Wir waren bei Mr Bacard. Aber die Gebühren wären alles in allem auf über hunderttausend Dollar gekommen. Ich bin nicht reich, ich konnte mir das nicht leisten. Aber ein paar Wochen darauf hat Mr Bacard bei uns angerufen. Er hat gesagt, er hätte ein Baby, das sofort in eine Familie müsste. Es wäre kein Neugeborenes, ihre Mutter hätte es einfach verlassen. Wir wussten, dass da was nicht stimmen konnte, aber er hat gesagt, wenn wir das Mädchen haben wollten, müssten wir uns sofort entscheiden, ohne weitere Fragen.«
    Er sah zur Seite. Ich betrachtete sein Gesicht. »Ich glaube, tief im Inneren haben wir es immer gewusst. Wir haben es uns nur nicht eingestanden. Aber auch das ist nicht der Hauptgrund für unsere Entscheidung.«
    Ich schluckte. »Was dann?«
    Sein Blick begegnete meinem. »Man darf nichts Falsches aus dem richtigen Grund tun.« Ich muss etwas verwirrt ausgesehen haben. »Wenn Lorraine und ich uns nicht daran halten, sind wir keine guten Eltern. Wir wollen, dass Natasha glücklich wird. Wir wollen, dass sie ein guter Mensch wird.«
    »Aber vielleicht sind Sie am besten geeignet, sie dazu zu machen.«
    Er schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Man gibt Kinder nicht zu den Eltern, die sie vielleicht am besten erziehen könnten. Weder Sie noch ich können das beurteilen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer uns das fällt. Na ja, vielleicht doch.«
    Ich wandte mich ab. Als mein Blick über den Spiegel glitt, sah ich mein Bild. Nur für eine Sekunde. Oder sogar noch weniger.
Aber es genügte. Ich sah, wer ich war. Ich sah, wer ich sein wollte. Ich drehte mich zu Abe um und sagte: »Ich möchte, dass wir sie gemeinsam großziehen.«
    Er war verblüfft. Genau wie ich. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte er.
    »Ich auch nicht. Aber so werden wir es machen.«
    »Und wie?«
    »Keine Ahnung.«
    Abe schüttelte den Kopf. »Das kann nicht klappen. Das ist Ihnen doch auch klar.«
    »Nein, Abe, das ist mir nicht klar. Ich bin hergekommen, um meine Tochter nach Hause zu holen – und ich musste feststellen, dass sie offenbar schon zu Hause ist. Wäre es richtig von mir, sie da herauszureißen? Ich möchte, dass Sie und Ihre Frau an ihrem Leben teilhaben. Ich sage nicht, dass es einfach wird. Aber es gibt Kinder, die bei allein stehenden Eltern aufwachsen, oder bei Stiefeltern oder in Waisenhäusern. Die Eltern trennen sich, sie lassen sich scheiden und wer weiß was. Wir alle lieben dieses kleine Mädchen. Wir sorgen dafür, dass es funktioniert.«
    Ich sah, wie die Hoffnung in das schmale Gesicht des Mannes zurückkehrte. Ein paar Sekunden lang brachte er kein Wort heraus. Dann sagte er: »Lorraine ist in der Lobby. Kann ich runtergehen und mit ihr sprechen?«
    »Natürlich.«
    Sie brauchten nicht lange. Es klopfte an meiner Tür. Als ich öffnete, schlang Lorraine ihre Arme um mich. Ich drückte sie an mich, diese Frau, mit der ich nie gesprochen hatte. Ihre Haare
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