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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance
Autoren: H Coben
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brachte mich aus der Fassung. Das passte alles nicht. Sonst war ich derjenige, der neben dem Krankenbett stand und auf den Patienten hinabsah. Eine weiße Haube — so ein steifes, dreieckiges Modell — saß wie ein Vogelnest auf dem Kopf der Schwester. Ich hatte einen Großteil meines Lebens in den unterschiedlichsten Krankenhäusern gearbeitet, kann aber nicht sagen, ob ich, außer in Fernsehserien oder Spielfilmen, je so eine Kopfbedeckung gesehen habe. Die Schwester war untersetzt und schwarz.
    »Dr. Seidman?«

    Ihre Stimme klang wie warmer Ahornsirup. Ich brachte ein unmerkliches Nicken zustande.
    Die Schwester musste meine Gedanken gelesen haben, hielt sie doch schon einen Becher mit Wasser in der Hand. Sie steckte mir einen Strohhalm zwischen die Lippen, und ich saugte gierig.
    »Schön langsam«, sagte sie sanft.
    Ich wollte fragen, wo ich mich befand, doch das war eigentlich deutlich zu erkennen. Ich öffnete den Mund, um zu fragen, was passiert war, aber wieder kam sie mir zuvor.
    »Ich hole den Doktor«, sagte sie und ging zur Tür. »Entspannen Sie sich.«
    Ich krächzte: »Meine Familie …«
    »Ich bin gleich wieder da. Machen Sie sich keine Sorgen.«

    Ich ließ meine Augen durchs Zimmer schweifen. Mein Blick war durch einen medikamentenbedingten Duschvorhang benebelt. Trotzdem gab es genug Anhaltspunkte für einige Schlussfolgerungen. Ich lag unverkennbar in einem Krankenhauszimmer. Zu meiner Linken stand ein Tropf mit Infusionsbeutel und Perfusor, von dem sich ein Schlauch zu meinem Arm schlängelte. Die Energiesparlampen summten fast, aber nicht ganz, unhörbar. In der oberen rechten Zimmerecke hing ein kleines Fernsehgerät auf einem Schwenkarm.
    Knapp zwei Meter vom Fußende des Bettes entfernt befand sich ein großes Fenster. Ich kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht hindurchsehen. Wahrscheinlich stand ich unter Beobachtung. Das bedeutete, dass ich auf einer Intensivstation lag. Und das wiederum hieß, dass es mir ziemlich schlecht ging.
    Meine Schädeldecke juckte, und irgendetwas zog mir an den Haaren. Bestimmt ein Verband. Ich versuchte eine erste Selbstdiagnose, doch mein Kopf versagte mir die Zusammenarbeit. Ein
dumpfer Schmerz erfasste mich, ohne dass ich sagen konnte, woher er eigentlich kam. Meine Gliedmaßen waren schwer, meine Brust schien in Blei gegossen zu sein.
    »Dr. Seidman?«
    Ich blickte zur Tür. Eine kleine Frau betrat das Zimmer, in kompletter Operationsausrüstung einschließlich Papierhaube. Der obere Verschluss ihres Mundschutzes war geöffnet, so dass er wie ein kleines Lätzchen auf ihre Brust herabhing. Ich bin vierunddreißig. Sie schien in meinem Alter zu sein.
    »Ich bin Dr. Heller«, sagte sie und trat näher ans Bett. »Ruth Heller.« Sie nannte mir ihren Vornamen. Professionelle Höflichkeit unter Kollegen. Ruth Heller musterte mich eindringlich. Ich bemühte mich, sie anzusehen. Mein Hirn war noch träge, schien jedoch langsam auf Touren zu kommen. »Sie sind im St. Elizabeth Hospital«, sagte sie mit angemessenem Ernst.
    Die Tür hinter ihr wurde geöffnet, und ein Mann betrat das Zimmer. Durch den Duschvorhang-Nebel konnte ich ihn nicht richtig erkennen, ich glaubte aber nicht, dass ich ihn kannte. Der Mann verschränkte die Arme und lehnte sich mit geübter Lässigkeit an die Wand. Kein Arzt, dachte ich. Wenn man lange genug mit Ärzten arbeitet, erkennt man so was.
    Dr. Heller warf dem Mann einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf mich.
    »Was ist passiert?«, fragte ich.
    »Jemand hat auf Sie geschossen«, sagte sie. Dann fügte sie hinzu: »Sie haben zwei Schüsse abbekommen.«
    Sie ließ das einen Moment im Raum stehen. Ich sah den Mann an der Wand an. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Dr. Heller fuhr fort: »Eine Kugel hat Ihren Schädel gestreift. Sie hat Ihnen förmlich ein Stück von der Kopfhaut abgezogen, die, wie Sie sicher wissen, sehr stark durchblutet ist.«

    Ja, das wusste ich. Große Kopfwunden bluten, als hätte man einem die Rübe abgehackt. Okay, dachte ich, das erklärt das Jucken am Schädel. Als Ruth Heller zögerte, fragte ich: »Und die zweite Kugel?«
    Heller seufzte. »Das war etwas komplizierter.«
    Ich wartete.
    »Die Kugel ist in Ihre Brust eingedrungen und hat den Herzbeutel verletzt. Dadurch ist eine große Menge Blut in den Raum zwischen Herz und Herzbeutel geflossen. Die Sanitäter konnten fast keine Lebenszeichen mehr ausmachen. Wir mussten den
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