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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance
Autoren: H Coben
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und
Menschen die Haut straffen, die sowieso schon zu schön waren — oder ich konnte verletzten, von Armut gezeichneten Kindern helfen. Ich habe mich für Letzteres entschieden, aber nicht in erster Linie, um Benachteiligten zu helfen, sondern weil es einfach die interessantere Arbeit ist. Die meisten plastischen Chirurgen puzzeln von Natur aus gern. Wir sind schräge Typen. Wir fahren voll ab auf die Freakshows auf Rummelplätzen, auf angeborene Anomalien und riesige Tumore. Kennen Sie die medizinischen Lehrbücher, in denen Abbildungen so grässlich entstellter Gesichter sind, dass Sie sie kaum ansehen können? Zia und ich stehen auf so was. Und es macht uns noch mehr an, das wieder in Ordnung zu bringen — das Zerstörte wieder zu reparieren.
    Die frische Luft kribbelte in meiner Lunge. Die Sonne strahlte wie am Jüngsten Tag und schien sich über meine Niedergeschlagenheit lustig zu machen. Ich wandte mein Gesicht in die Sonne und ließ mich von der Wärme beruhigen. Monica hatte das häufig gemacht. Sie behauptete, es lindere den Stress. Dabei verschwanden die Falten aus ihrem Gesicht, als hätten die Strahlen sie sanft massiert. Ich schloss die Augen. Lenny wartete schweigend neben mir und ließ mich gewähren. Ich habe mich immer für etwas überempfindlich gehalten. Bei albernen Filmen fange ich leicht an zu weinen. Meine Gefühle sind leicht zu manipulieren. Der Krankheitsverlauf meines Vaters jedoch hat mich nie zum Weinen gebracht. Und jetzt, nach diesem furchtbaren Schlag, war es — ich weiß nicht, als wären meine Tränen längst versiegt. Eine klassische Verdrängungsstrategie, nahm ich an. Da musste ich durch. Das erinnert an meine Arbeit: Wenn ein Riss auftritt, flicke ich ihn, bevor er immer größer wird.
    Lenny kochte immer noch nach Edgars Anruf. »Hast du eine Ahnung, was der alte Drecksack von dir will?«
    »Absolut nicht.«
    Er sagte nichts. Ich wusste, was er dachte. Lenny gab Edgar die
Schuld am Tod seines Vaters. Sein alter Herr hatte im mittleren Management bei ProNess Foods gearbeitet, einem von Edgars Unternehmen. Er hatte sechsundzwanzig Jahre lang für die Firma geschuftet und war gerade zweiundfünfzig geworden, als Edgar eine große Fusion einfädelte. Lennys Vater verlor seinen Job. Ich erinnere mich noch daran, wie Mr Marcus mit eingefallenen Schultern am Küchentisch saß und sorgfältig gefaltete Lebensläufe in Briefumschläge steckte. Er fand keine neue Stelle und starb zwei Jahre nach seiner Entlassung an einem Herzinfarkt. Lenny war nicht davon zu überzeugen, dass zwischen den beiden Ereignissen kein Zusammenhang bestand.
    Er fragte: »Soll ich wirklich nicht mit zu dir kommen?«
    »Nein, ich schaff das schon.«
    »Hast du dein Handy?«
    Ich zeigte es ihm.
    »Ruf an, wenn du was brauchst.«
    Ich bedankte mich und ließ ihn gehen. Der Fahrer öffnete die Tür. Stöhnend nahm ich auf dem Rücksitz Platz. Wir fuhren nicht weit. Kasselton, New Jersey. Meine Heimatstadt. Wir kamen an den Einfamilienhäusern aus den Sechzigern vorbei, den großen Gebäuden im Farmhausstil aus den Siebzigern, den Aluminiumverkleidungen aus den Achtzigern und den Fertigbau-Herrenhäusern aus den Neunzigern. Schließlich standen die Bäume immer dichter. Die Häuser lagen weiter von der Straße entfernt und waren durch saftige Grünflächen vor den ungewaschenen Massen geschützt, die auf der Straße vorbeikommen könnten. Wir näherten uns altem Geld und den dazugehörigen exklusiven Anwesen, auf denen es immer nach Herbst und Holzfeuern roch.
    Die Portmans hatten sich gleich nach dem Bürgerkrieg in diesem Dickicht angesiedelt. Wie fast alle heutigen Vororte New Jerseys war dies früher Farmland gewesen. Urgroßvater Portman hatte
das Land nach und nach verkauft und so ein Vermögen gemacht. Sie besaßen immer noch sechzehn Acres, damit war ihr Grundstück eins der größten der Umgebung. Als wir die Zufahrt hinauffuhren, wanderte mein Blick nach links — zum Familiengrab.
    Ich sah einen kleinen Hügel frisch aufgeworfene Erde.
    »Halten Sie an«, sagte ich.
    »Tut mir Leid, Dr. Seidman«, erwiderte der Fahrer, »aber ich soll Sie direkt bis an die Tür bringen.«
    Ich wollte schon protestieren, überlegte es mir dann jedoch anders. Ich wartete, bis der Wagen vor dem Haupteingang hielt. Dann stieg ich aus und ging die Einfahrt entlang zurück. Ich hörte, wie der Fahrer »Dr. Seidman?« rief. Ich ging weiter. Er rief mich noch einmal. Ich beachtete ihn nicht. Obwohl es kaum geregnet hatte,
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