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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks
Autoren: Carl Hanser Verlag
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die Giftspritze ansetzte – was Marietta sehr bald dazu bringen sollte, die Tür zu seinem Büro mit Nachdruck und ganz ohne die sonst nötige Aufforderung zu schließen.
    Nachdem seine Frau Laura ihm am Abend zuvor telefonisch mitgeteilt hatte, dass sie zum Abendessen nicht zu Hause sein würde, weil sie eine Bilderkollektion begutachten musste, hatte Proteo Laurenti einen äußerst vergnüglichen Abend verbracht. Trotz des Einsatzes, zu dem er gegen zweiundzwanzig Uhr gerufen wurde.
     
    *
     
    Der Sommer lag gnadenlos heiß über der Stadt, und wer konnte, fuhr am Abend hinauf auf den Karst, wo es etwas kühler war. Gleich als Gemma ihre Praxis geschlossen hatte, waren sie mit Laurentis neuer ferrariroten 300er Vespa hinaufgebrummt, um auf der Terrasse von La Nuova Mormorazione in der Via Bonomeo eine Pizza zu essen. Doch dann war Proteo Laurenti plötzlich in eine Sackgasse eingebogen, die zwischen uniformen Mehrfamilienhäusern, die aussahen, als stammten sie aus der Spielzeugabteilung einer Kaufhauskette, bis zum Waldrand führte.
    »Was hältst du von zwei Schritten?«, fragte Laurenti, als er den Motorroller aufbockte.
    »In den Wald?« Gemma kicherte. »Ist das nicht gefährlich?«
    »Und wie! Bären, Wölfe, Quallen, Haie, Drachen und Räuber! Aber sicher keine Triestiner, die uns kennen. Bei der Hitze bewegen sie sich noch weniger als sonst. Schau, wie schön die Stadt da unten liegt.«
    »Wie eine friedlich schlafende Raubkatze, die sich unter der Abendsonne für die nächtliche Jagd ausruht.« Gemma hakte sich bei ihm ein.
     
    Ein paar Meter weiter unten war der Blick aufs Meer schöner, wo er dreißig Seemeilen weit über die Stadt Triest und den nördlichen Golf der Adria schweifen konnte, hinweg über die grünoxidierte und flügelbewehrte Statue der »Vittoria«, der Siegesgöttin, die den weißen Leuchtturm krönte. Wie verliebte Teenager standen sie, eng umschlungen in einen nicht enden wollenden Kuss versunken, inmitten des Eichenwaldes, der sich den steilen Abhang zum Hochplateau des Karsts bis zum Obelisk hinaufzog. Seine Hände steckten unter der malvenfarbenen Bluse, die kaum mehr die gebräunte Haut der jungen Frau bedeckte, während sie seine unrasierten Wangen in ihren Handflächen hielt und ihren Mund so wild auf den seinen presste, als wollte sie ihn mit Haut und Haar verschlingen.
    Ein dumpfer Knall störte die Idylle. Proteo Laurenti schrak auf. Ein Geräusch wie der Schuss aus einer schallgedämpften Waffe, die nicht allzu weit entfernt abgefeuert worden war. Als Gemma ihn fragend ansah, legte er nur den Finger auf die Lippen, schloss den Gürtel und stopfte hastig sein Hemd in die Hose. Es knackte laut, wie von morschen Ästen, die unter dem Gewicht eines Lebewesens barsten. Laurenti zog Gemma hinter den dicken Stamm einer alten Eiche und suchte mit seinem Blick die Umgebung ab.
    »Dort«, flüsterte er schließlich. »Schau, dort bei dem ausgewaschenen Fels. Kannst du sie sehen? Die mit den schwarzen Streifen sind die Frischlinge, etwa vier Monate alt, und das große ist die Bache. Besser wir verduften, bevor sie uns wittern. Die Alte kann aus Sorge über ihren Nachwuchs ziemlich wild werden.«
    »Sie stehen aber genau da, von wo wir gekommen sind.« Gemma schaute sich missmutig um und schloss den untersten Knopf ihrer Bluse.
    »Wir schlagen einen Bogen bergauf, komm.« Proteo Laurenti fasste ihre Hand und blieb schlagartig stehen, als erneutein Schuss fiel. »Scheiß Jäger, verdammt noch mal! Ich verstehe es ja, dass man die Viecher zum Abschuss freigegeben hat, weil sie Schaden anrichten, aber dass man nicht mehr im Wald spazieren gehen kann, ohne das Leben zu riskieren, geht zu weit.« Zwei weitere Schüsse fielen. »Lass uns verschwinden, bevor sie uns auch noch für Wildschweine halten.«
    »Seit wann benutzen Jäger schallgedämpfte Waffen?«, fragte Gemma.
    »Vielleicht sind das keine Jäger.«
    Obgleich ganz in der Nähe der Innenstadt gelegen, kannte Proteo Laurenti diesen Wald kaum. Sie stolperten bergauf und versuchten, die spitzen Kalksteine zu meiden. Laurenti wischte den Schweiß von der Stirn und sah sich um. Sie hatten sich ein gutes Stück in Sicherheit gebracht und suchten nach einem Weg aus dem Wald hinaus zur Straße, wo ihr Fahrzeug stand.
    »Das wäre doch der Hit, wenn wir uns hier verirren würden«, meinte Gemma und schaute skeptisch auf das unwegsame Gelände.
    »Mir kann nichts passieren«, scherzte Laurenti, »ich bin in Begleitung meiner
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