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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum
Autoren: H Coben
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hatte wie besessen fotografiert. Er sah sich gern in der Rolle des Familienfotografen, hielt es für seine Vaterpflicht, für eine Aufgabe, für die sich ein Vater zum Wohle der Familie opfern musste.
    Das erste Foto zeigte Emma, ihre acht Jahre alte Tochter, und Max, ihren sechsjährigen Sohn, hoch oben auf dem Heuwagen, die Schultern hochgezogen, die Wangen vom Wind gerötet. Grace hielt inne. Starrte auf das Bild. Schauer von – ja tatsächlich von Mutterglück, primitiv und evolutionär zugleich, liefen ihr in Wellen über den Rücken. So ist das mit Kindern. Es sind die kleinen Dinge des Lebens, die unter die Haut gehen. Eigentlich war es an jenem Tag für einen Ausflug viel zu kalt gewesen. Sie hatte geahnt, dass die Obstplantage überlaufen sein würde, und eigentlich zu Haus bleiben wollen. Jetzt, angesichts dieses Fotos, verstand sie ihre dämlichen Vorbehalte selbst nicht mehr.
    Die übrigen Mütter sammelten sich am Zaun, plauderten und trafen Verabredungen für ihre Kinder. Sie lebten im 21. Jahrhundert, im post-feministischen Amerika, und dennoch waren unter den gut achtzig Erwachsenen, die hier auf ihre Sprösslinge warteten, nur zwei Väter. Der eine war, soviel sie wusste, seit über einem Jahr arbeitslos. Man sah es in seinen Augen, an seinem langsamen, gebeugten Gang, der nachlässigen Rasur. Der andere arbeitete als freiberuflicher Journalist und frönte dem Zwang, die Mütter unterhalten zu müssen. Vielleicht aus Einsamkeit. Sie wusste es nicht.
    Jemand klopfte an ihr Wagenfenster. Grace blickte auf. Cora Lindley, ihre beste Freundin in der Stadt, machte ihr ein Zeichen, die Türverriegelung zu lösen. Grace drückte auf den Knopf. Cora glitt auf den Beifahrersitz.

    »Na wie lief’s gestern? Mit deiner Verabredung, meine ich?«
    »Mies.«
    »Oh, das tut mir Leid.«
    »Fünftes Rendezvous. Und Schluss. Immer dieselbe Leier.«
    Cora war geschieden und ein wenig zu sexy für die eifernden »Damenkränzchen« der Super-Mütter. Mit ihrer tief ausgeschnittenen Leopardenbluse, Röhrenjeans und pinkfarbenen Pumps wirkte sie in der Masse der Khakihosen und weiten Pullover wie ein fremdartiger Paradiesvogel. Die argwöhnischen Blicke der anderen sprachen Bände. Vorstadtpublikum ist sehr anfällig für spätpubertäre Anwandlungen.
    »Was für eine Leier?«
    »Du hast nicht viele Rendezvous, was?«
    »Offen gestanden, nein«, erwiderte Grace. »Ein Ehemann und die Kinder haben meinen Lebensstil verdorben.«
    »Jammerschade. Frag mich bitte nicht, weshalb … aber beim fünften Rendezvous kommen die Kerle unisono auf ein Thema … ›Menage à trois‹ … vornehm ausgedrückt.«
    »Machst du Witze?«
    »Wofür hältst du mich? Beim fünften Rendezvous, ich schwör’s dir. Spätestens. Wie das Amen in der Kirche. Dann wollen sie von dir wissen, was du von einer ›Menage à trois‹ hältst. Rein theoretisch, natürlich. Gerade so, als solltest du deinen Senf zum Friedensprozess im Nahen Osten dazugeben.«
    »Und wie reagierst du darauf?«
    »Ganz einfach. Ich sage, dass ich persönlich mich dabei glänzend amüsiere. Besonders dann, wenn die beiden Männer mir’s auf Französisch besorgen.«
    Grace lachte lauthals auf. Sie stiegen aus dem Wagen. Graces schlimmes Bein schmerzte. Nach über zehn Jahren sollte sie eigentlich mit dem Thema durch sein. Trotzdem war es ihr noch immer peinlich, ein Bein für alle sichtbar nachzuziehen. Sie blieb daher beim Wagen zurück und sah Cora nach, die zum Zaun des
Schulhofs ging. Kaum ertönte die Schulglocke, ergoss sich wie auf Kommando eine Horde Kinder aus dem Schultor und in den Hof. Wie alle anderen Eltern hatte Grace nur Augen für ihre eigene Brut. Der Rest war Staffage.
    Max tauchte erst mit der zweiten Welle auf. Kaum erblickte Grace ihren Sohn – die Schnürsenkel eines Turnschuhs lose, der Schulranzen viel zu groß, die Mütze mit dem Emblem der New York Rangers schief auf dem Kopf –, wurde ihr wie immer warm ums Herz. Max rannte die Treppe herunter und schwang dabei den Schulranzen über die Schultern. Sie lächelte unwillkürlich. Max entdeckte sie und grinste.
    Max war mit einem Satz auf dem Rücksitz des Saab. Grace schnallte ihn auf dem eingebauten Kindersitz in der Mitte fest und fragte, wie es in der Schule gewesen sei. Weiß nicht, lautete die Antwort. Sie fragte weiter, welche Fächer heute dran gewesen seien: Rechnen, Englisch, Biologie, Werken? Die Antwort war ein Achselzucken und das nächste Weiß nicht. Grace nickte stumm.
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