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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum
Autoren: H Coben
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Typischer Fall von Schüler-Alzheimer. Eine allzeit grassierende Seuche. Was machten die eigentlich in der Schule mit den Kindern? Medikamente? Erpressung? Einfach rätselhaft.
    Erst zu Hause, nachdem Max seinen Joghurt-Snack – vergleichbar mit Joghurt aus der Zahnpastatube – vertilgt hatte, konnte Grace in Ruhe darangehen, sich den Rest der Fotos anzusehen.
    Das Kontrolllämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Grace prüfte die Nummer auf dem Display. Die Anzeige verriet nichts. Die Nummer wurde offenbar unterdrückt. Sie hörte das Tonband ab. Überraschung. Die Stimme eines … alten Freundes ertönte. Die Bezeichnung »Bekannter« wäre in diesem speziellen Fall kaum zutreffend gewesen. Eine Art »Vaterfigur« kam der Wirklichkeit schon näher. Wenn auch in einem nicht alltäglichen Sinn.
    »Hallo, Grace. Carl Vespa hier.«
    Diese Einleitung war überflüssig. Es war Jahre her, doch diese Stimme hätte sie immer und überall wiedererkannt.

    »Bitte rufen Sie mich bei Gelegenheit zurück. Wir müssen reden.«
    Dann ertönte der Piepton des Anrufbeantworters. Grace rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte plötzlich Herzflimmern. Vespa. Carl Vespa hatte angerufen. Das verhieß nichts Gutes. Carl Vespa war trotz all der liebevollen Fürsorge für ihre Person kein Mann überflüssiger Gesten. Sie zögerte, zum Telefonhörer zu greifen, beschloss, es auf später zu verschieben.
    Grace betrat das Gästezimmer, das sie zu einem provisorischen Atelier umfunktioniert hatte. Sobald sie malte – mit ihrer Kunst allein war –, sah sie die Welt so, wie sie sie auf die Leinwand zu projizieren gedachte. Straßen, Bäume, Menschen reduzierte sie auf verschiedenartige Pinsel, Maltechniken, Farben, Licht und Schatten. Ihre Arbeit spiegelte nicht die Wirklichkeit, sondern ihre subjektiven Eindrücke wider. Was dabei herauskam, war nicht unbedingt eine schönere Welt. Sie war oft provozierender, vielleicht sogar hässlicher, ergreifender und faszinierender. Grace wollte Reaktionen hervorrufen. Möglich, dass manch einer sich an einem ihrer Sonnenuntergänge erfreute – Grace dagegen beabsichtigte, den Betrachter in ihre Sonnenuntergänge hineinzusaugen, in ihm das Gefühl der Angst vor dem Hinsehen zu wecken, ohne dass er sich losreißen konnte.
    Grace hatte für einen Aufpreis von sämtlichen Fotos einen zweiten Abzug machen lassen. Ihre Finger glitten in den Umschlag und zogen die Bilder heraus. Die beiden ersten zeigten Emma und Max auf dem Heuwagen. Als Nächstes kam Max, der den Arm ausstreckte, um einen Apfel der Sorte »Gala« zu pflücken. Die Kinderhand war natürlich nur verschwommen erkennbar, da Jack mit dem Objektiv zu dicht herangegangen war. Geliebter Idiot! Es folgten mehrere Schnappschüsse von Grace und den Kindern mit den unterschiedlichsten Äpfeln, Bäumen und Körben. Ihre Augen wurden feucht wie regelmäßig, wenn sie Fotos ihrer Kinder betrachtete.

    Graces Eltern waren früh gestorben. Ihre Mutter war bei einem Autounfall auf der Route 46 in Totowa ums Leben gekommen. Grace, das einzige Kind, war damals elf gewesen. Es waren keine zwei Polizeibeamten vor ihrer Haustür erschienen, wie es einem im Kino immer vorgegaukelt wurde. Ihr Vater hatte durch einen Telefonanruf davon erfahren. Grace erinnerte sich noch gut, wie der Vater in blauer Hose und grauer Strickweste mit seinem üblichen melodischen »Hallo« den Anruf entgegengenommen hatte, wie jede Farbe aus seinem Gesicht gewichen, wie er unvermittelt zu Boden gesunken war, sein Schluchzen zuerst mühsam und gequält, dann lautlos, so als bekäme er nicht genügend Luft, um seinen Schmerz zu artikulieren.
    Der Vater hatte Grace großgezogen, bis sein Herz, geschwächt von einem Rheumaanfall in seiner Kindheit, aufgehört hatte zu schlagen. Grace war damals in ihrem ersten Jahr im College gewesen. Ein Onkel in Los Angeles hatte sich erboten, sie bei sich aufzunehmen. Grace, mittlerweile volljährig, hatte sich jedoch entschieden, im Osten zu bleiben und ihren eigenen Weg zu gehen.
    Der Tod der Eltern, ein schmerzlicher Einschnitt, hatte in Grace den Willen geweckt, umso intensiver zu leben. Jetzt war sie bemüht, ihren Kindern ausreichend Erinnerungen für die Zeit zu geben, wenn auch sie nicht mehr da sein würde.
    Und exakt in dem Augenblick der Erinnerung an die eigenen Eltern, als ihr gleichzeitig auffiel, wie erwachsener Emma und Max seit dem Apfelpflücken im Vorjahr auf den Fotos aussahen – fiel ihr das absonderliche Foto in die
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