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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum
Autoren: H Coben
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Finger.
    Grace runzelte die Stirn.
    Es lag ungefähr in der Mitte des Stapels, hatte das gleiche Format wie die anderen, so dass es sich unauffällig einfügte, auch wenn sich das Papier weicher und dünner anfühlte. Billiger, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht eine Kopie aus einem der modernen Bürokopierer.
    Grace griff nach dem nächsten Foto. Keine Kopie. Das war
seltsam. Nur ein Abzug von diesem Foto. Sie dachte nach. Das Bild musste versehentlich in ihren Auftrag gerutscht sein.
    Denn dieses Foto gehörte ihr nicht.
    Es war irrtümlich in ihre Tüte gelangt. Eine nahe liegende Erklärung. Unwillkürlich fiel ihr Sauerkrautbart und seine offensichtlich laxe Arbeitseinstellung ein. Er war geradezu prädestiniert dafür, Mist zu bauen, ein falsches Foto in ihren Stapel einzusortieren, oder?
    Das war es vermutlich, was passiert war.
    Das Foto einer fremden Person war in ihre Tüte geraten.
    Oder vielleicht …
    Das Foto war irgendwie seltsam – nicht weil es schwarz-weiß oder sepiafarben gewesen wäre. Es war ein Farbabzug, wenn auch ausgeblichen. Den Farben fehlte die Frische, die man heutzutage erwartete. Auch die Personen auf dem Foto waren nicht zeitgemäß. Ihre Kleidung, ihre Frisuren, ihr Make-up … alles war seit mindestens fünfzehn Jahren aus der Mode.
    Davon abgesehen war das ganze Foto reichlich unscharf. Es zeigte vier – nein, da war noch eine Frau ganz hinten in der Ecke – also fünf Personen. Zwei Männer und drei Frauen, alle um die zwanzig … zumindest die, die sie deutlicher erkennen konnte.
    College-Studenten, urteilte Grace.
    Sie trugen die Jeans, die Sweatshirts, die unkonventionellen Frisuren, den Gesichtsausdruck, die lässige Haltung angehender Unabhängigkeit zur Schau. Die Aufnahme wirkte, als seien die Personen nicht darauf vorbereitet gewesen, fotografiert zu werden, so als habe der Fotograf sie bereits bei den Vorbereitungen dazu abgelichtet. Einige hatten die Köpfe zur Seite gewandt, so dass sie nur im Profil festgehalten waren. Von dem dunkelhaarigen Mädchen am rechten äußeren Rand konnte man eigentlich nur den Hinterkopf und eine Jacke aus Jeansstoff erkennen. Neben ihr stand ein Mädchen mit tizianrotem Haar und weit auseinander stehenden Augen.

    Das Mädchen in der Mitte war eine Blondine – Grace stockte der Atem. Ihr Gesicht war durch ein großes, dickes X beinahe unkenntlich gemacht. So als habe jemand sie ausgestrichen.
    Wie war dieses Foto … ?
    Während Grace auf das Bild starrte, fühlte sie plötzlich einen kleinen Stich in der Brust. Die drei Frauen waren ihr unbekannt. Die beiden Männer sahen sich irgendwie ähnlich. Die gleiche Körpergröße, dasselbe Haar, die gleiche Haltung. Der Linke sagte ihr gar nichts. Den anderen allerdings glaubte sie zu kennen. Er stand in der Mitte neben dem blonden Mädchen mit dem X im Gesicht … Aber das war absurd. Zum einen hatte er sein Gesicht halb abgewandt. Zum anderen ließ der schüttere, jugendliche Bartwuchs keine genauere Identifizierung zu …
    War das ihr Ehemann?
    Grace beugte sich tiefer darüber. Es war bestenfalls eine Profilaufnahme. In diesem jugendlichen Alter hatte sie Jack nicht gekannt. Sie waren sich vor dreizehn Jahren an einem Strand an der Côte d’Azur in Südfrankreich begegnet. Nach über einem Jahr operativer Eingriffe und Physiotherapien war Grace noch immer rekonvaleszent gewesen. Kopfschmerzen und Gedächtnislücken hatten sich als hartnäckige Begleiter erwiesen. Sie hatte gehinkt – wie auch jetzt noch –, doch nachdem sie an all der Publicity und Fürsorge, die ihr nach jener tragischen Nacht zuteil wurden, zu ersticken drohte, hatte sie einfach nur das Bedürfnis verspürt, alldem für eine Weile zu entfliehen. Sie hatte sich an der Pariser Universität eingeschrieben und sich ernsthaft dem Kunststudium gewidmet. Und während der Ferien an der sonnigen Côte d’Azur war ihr Jack über den Weg gelaufen.
    War sie sicher? War es wirklich Jack?
    Sein Äußeres sah anders aus. Kein Wunder. Er trug das Haar länger und einen Bart, der zu den noch recht jugendlichen Zügen nicht recht passen wollte. Und er trug eine Brille. Aber die Haltung, die Neigung des Kopfes, der Gesichtsausdruck …

    Das war ihr Mann.
    Sie blätterte hastig den Rest der Fotos durch. Heuwagen, Äpfel und in Bäume gereckte Arme wechselten sich ab. Dazwischen stieß sie auf eine Aufnahme, die sie von Jack gemacht hatte. Nur dieses eine Mal hatte er ihr die Kamera überlassen. Jack, der immer und
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