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Kein bisschen Liebe

Kein bisschen Liebe

Titel: Kein bisschen Liebe
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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hinunter und machte dann erschrocken einen Satz rückwärts.
    »Hast du keine Angst, so hoch oben zu wohnen?«, fragte er mich.
    »Sind doch bloß acht Stockwerke.«
    »Wenn hier einer runterspringt … Hast du manchmal Lust runterzuspringen? Ist schon verlockend, oder?«
    »Nein. Der Gedanke ist mir noch nie gekommen.«
    »Ahhh.«
    Für einen Augenblick sagte keiner was. Um das Schweigen nicht zu lang werden zu lassen, erzählte ich ihm:
    »Vor einigen Monaten sind ein paar Maurer abgestürzt, die die Mauer verputzen sollten. Und sie haben’s überlebt.«
    »Wo sind die runtergefallen?«
    Ich zeigte ihm die Stelle. Sie waren aufs Flachdach eines angrenzenden dreistöckigen Hauses gefallen.
    »Ach, das waren ja bloß fünf Stockwerke. Wenn sie auf dem Pflaster gelandet wären …«
    »Muss nicht sein. Sie haben sich ein paar Knochenbrüche zugezogen und …«
    »Kommt immer drauf an, wie du fällst. Wenn du mit dem Kopf voraus springst, um schön mit dem Schädel aufzuschlagen, dann brauchst du nichts mehr.«
    »Óscar, bitte!«, rief Marianita ärgerlich.
    Wir lachten, um die Anspannung aufzulösen. Wir tranken weiter. Ich suchte nach anderen Gesprächsthemen. Aber mir fiel nichts ein. Ah, doch, die Sache mit seinen Computern kam mir in den Sinn:
    »Und was machst du so, Óscar? Bist du Programmierer?«
    »Nein. Heutzutage sind die Programme zu kompliziert und … nein. Ich sitze an einem Rechner … äh … ich verwalte das Inventar von einem Lager. In einer Shopping Mall.«
    »Aha …«
    Schweigen. Wir tranken weiter. Wir redeten über die Aussicht, die Hitze, den Anstieg der Lebenshaltungskosten.
    Óscar sagte: »Für mich ist das hart. Ich wohne mit meinen Eltern zusammen. Mit beiden. Mein Lohn reicht nicht mal für vier Tage. Die anderen sechsundzwanzig Tage im Monat muss ich improvisieren.«
    Ich verteilte den übrigen Rum aus der Flasche. Ich sagte, ich würde noch mehr holen gehen. Marianita hielt mich zurück:
    »Nein, nein. Wir gehen gleich.«
    »Jetzt schon?«
    »Ja. Ihr habt schon genug getrunken.«
    »Na gut …«
    Ich hätte gern noch weitergetrunken. Óscar machte den Mund nicht auf. Wir blieben wieder schweigend sitzen. Es war ziemlich öde. Marianita ergriff die Initiative und organisierte den Rückzug. Als sie schon an der Tür standen, bat Óscar, die Toilette benutzen zu dürfen. Aber sicher doch. Er ging hinein. Es dauerte eine ganze Weile, und als er zurückkam, war er begeistert. Er nötigte Mariana, mit ihm reinzugehen und sich den Kalender mit den nackten Frauen anzusehen. Den habe ich an der Badezimmertür hängen. Auf der Innenseite. Ein kanadischer Pornograf hat ihn mir Anfang des Jahres als Geschenk mitgebracht. Das Klo schien mir der passende Ort dafür. Óscar lachte immer wieder auf und sagte zufrieden:
    »So was hab ich seit Jahren nicht gesehen. Wo hast du den nur her? Mensch! Du bist vielleicht abgefahren!«
    Er war hin und weg von diesen Frauen auf Papier. Pornografie ist seit über vierzig Jahren verboten. Muss was sehr Unmoralisches sein. Aber ich finde es großartig. Er sah den Kalender mehrmals durch, bis ihm Mariana verärgert oder peinlich berührt dazwischenfuhr.
    »Jetzt sei nicht kindisch, Óscar. Lass uns endlich gehen!«
    Ich verabschiedete mich von ihnen und unterdrückte die Regung, die Treppe hinunterzulaufen und noch eine Flasche Rum zu holen. Als ich die Wohnungstür schloss, schoss mir ein Satz in den Kopf und wiederholte sich wie eine telepathische Mitteilung: »Deine dunkelsten und tiefsten Geheimnisse.« Ich sagte ihn mir mehrmals vor. Woher kam dieser Satz? Er hämmerte weiter in meinem Hirn, bis ich ein Notizbuch nahm und ihn aufschrieb: deine dunkelsten und tiefsten Geheimnisse. So, Ruhe. Ich las in ein paar Zeitschriften. Julia kam um sieben Uhr abends. Es war noch hell. Ich ging runter und holte eine Flasche Rum. Während wir tranken, erzählte ich ihr von dem Besuch. Es war sehr heiß und es gab eine Menge Mücken. Wir schwitzten. Wir aßen was Leichtes. Julia duschte und legte sich hin. Ich fand sie traurig, unausgeglichen, keine Ahnung. Sie lachte nicht über meine Geschichten von Marianita und Óscar. Ich legte mich hin, ohne geduscht zu haben. Ich war eine Kugel aus Schmutz und Schweiß, aber das war mir egal. Wir schliefen ganz schlecht, wie immer. Träume, Albträume. In der Nacht wachten wir mehrmals auf. Schließlich wurde es Tag. Und wir fingen von vorne an.

Come back from the night
    Seit einer Stunde oder mehr wälzte ich mich schlaflos im
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