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Kay Susan

Titel: Kay Susan
Autoren: Das Phantom
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Oper vorzubereiten. Ich hatte eine schöne Stimme, aber ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich das Talent oder die Selbstdisziplin besaß, Paris zu erobern. Als ich siebzehn war, begleitete ich meinen Vater zu einer Baustelle in der Rue de Lecat und lernte dort Charles kennen; im gleichen Augenblick gab ich jeden Gedanken an eine ruhmreiche Bühnenkarriere auf.
    Charles, fünfzehn Jahre älter als ich, war ein Steinmetz, dessen Arbeit mein Vater aufrichtig bewunderte. Papa sagte immer, es sei eine Freude, Pläne in die Hände eines Mannes zu legen, der ein so tiefes, instinktives Gefühl für die Baukunst besaß und sich nie mit dem Zweitbesten zufriedengab. Neben Charles und meinem Vater hatte der durchschnittliche Kunde, der auf Sparsamkeit bedacht war, einen schweren Stand. Vielleicht lag es an ihrer vollkommenen beruflichen Übereinstimmung, daß Papa Charles ganz natürlich in der Familie willkommen hieß, sobald ich meine Neigung kundgetan hatte. Falls er enttäuscht war über meinen Entschluß, eine vielversprechende Zukunft als Primadonna aufzugeben, so äußerte er das nicht. Und was Mama betrifft – sie war eine Engländerin, mit allen Merkmalen, die dieses Wort beinhaltet. Ich glaube, sie sah mich lieber achtbar – wenn auch wenig glanzvoll – verheiratet als auf irgendeiner Pariser Bühne.
    Charles und ich reisten auf Papas Kosten nach London, um dort die Flitterwochen zu verbringen, versehen mit einer Liste architektonischer Sehenswürdigkeiten, die wir »auf keinen Fall versäumen« durften. Viel sahen wir nicht. Es war November, der trübste aller englischen Monate, und während unseres dreiwöchigen Aufenthaltes war die Stadt fast ständig in dicken gelblichen Nebel gehüllt. Das war eine gute Entschuldigung, um im Haus zu bleiben und in unserem sauberen, diskreten Hotelzimmer in Kensington die Wunder der menschlichen Architektur zu erforschen.
    Am letzten Tag unseres Besuches glänzte die Sonne mitleidlos durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen und lockte uns schuldbewußt aus den Laken. Wir konnten nicht nach Hause fahren, ohne wenigstens Hampton Court gesehen zu haben . . . Papa würde uns das nie verzeihen!
    Es war früher Abend, als der Landauer uns danach vor dem Hoteleingang wieder absetzte. Während Charles sich mit den fremden Münzen und einem wenig hilfreichen Kutscher abmühte, ging ich in die Hotelhalle, um unseren Schlüssel zu holen.
    »Ein Brief für Sie, Madam«, sagte der Hotelpage, und gedankenlos nahm ich den Umschlag und steckte ihn in meinen Muff, während ich mich nach Charles umsah, der das Foyer betrat.
    Noch immer verschlug mir sein Anblick den Atem wie am ersten Tag in Rouen; er war so groß und sah so unerhört gut aus. Als er den Schlüssel in meiner Hand sah, spiegelte sein Lächeln meine Gedanken wider.
    Zwei Stunden später, als ich wie eine zufriedene, träge Katze in Charles’ Armen lag, fiel mir plötzlich der Brief in meinem Muff ein.
Erst nach unserer überhasteten Rückkehr nach Frankreich wurde mir klar, daß ich mein erstes Kind in derselben Woche empfangen hatte, in der meine beiden Eltern an Cholera gestorben waren.

∗ ∗ ∗
    Es gab keine allgemeine Epidemie. Ein alter Bekannter meines Vaters, der aus Paris zu Besuch gekommen war, erkrankte im Laufe eines gastlichen Abends im Haus meiner Eltern. Papa wollte nichts davon hören, seinen Freund, einen Junggesellen, nach Hause zurückkehren zu lassen, damit er von Dienstboten gepflegt würde; und diese seine natürliche, großzügige Gastfreundschaft kostete alle Mitglieder des Haushalts das Leben.
    Nach der Tragödie mochte ich nicht mehr in Rouen leben. Die Stadt war für mich zum Mausoleum meiner verwöhnten, glücklichen Kindheit geworden. Ich konnte nicht länger in einer Stadt wohnen, in der jede Straßenecke und jedes schöne alte Gebäude schmerzliche Erinnerungen wachrief.
    Natürlich erbte ich alles: das schöne alte Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert in der Rue St. Patrice und das Einkommen aus den zahlreichen geschickten Investitionen meines Vaters.
    »Du bist eine Frau mit unbeschränkten Mitteln«, sagte Charles nachdenklich zu mir, und ich spürte sein vages Unbehagen bei diesem Gedanken. Er wollte nicht, daß jemand sagte, er habe mich nur meines Geldes wegen geheiratet. Zum ersten Mal wurden mir die inneren Konflikte bewußt, vor denen jeder Mann steht, wenn er über seinem Stand heiratet. Ich wurde immer sicherer, daß wir Rouen verlassen und anderswo ganz neu beginnen
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