Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kay Susan

Titel: Kay Susan
Autoren: Das Phantom
Vom Netzwerk:
sollten.
    Ich ging durch Papas Haus und benannte systematisch die sentimentalen Überreste meiner Kindheit, von denen ich mich nicht würde trennen können – Mamas Schmuck, die Architekturbücher und -aufzeichnungen meines Vaters, die kleine Geige, auf der ich meine ersten Tonleitern gekratzt hatte. Die ganze Zeit trafen gestelzte Beileidsschreiben ein, in denen angemessenes oder übertriebenes Bedauern geäußert wurde. Dann öffnete ich eines Morgens einen Brief von Marie . . .
    Marie Perrault, Gefährtin meiner mühseligen Gefangenschaft in der Klosterschule, war meine Brautjungfer gewesen – wahrscheinlich die unscheinbarste Brautjungfer, die es je gegeben hat. In ihrem Aussehen hatte Marie gewiß nichts, das sie empfahl. Sie war geradezu unansehnlich, mit einem käsigen, verkniffenen Gesicht unter einer Mähne karottenroter Haare, und sie hatte die schüchterne Art, die automatisch alle Rohlinge aus der Nachbarschaft anzieht. Sie muß etwa zehn gewesen sein, als ich sie unter meinen Schutz nahm. Ich gestattete Marie, mir nachzulaufen wie ein treuer Spaniel, und sagte den anderen, ich fände sie nützlich – was zwar stimmte, aber nicht die ganze Wahrheit war. Ich war das hübscheste Mädchen in der Klosterschule und auch bei weitem das einflußreichste. Und Marie blieb meine Freundin, als alle anderen schon lange irgendwo in der Normandie verheiratet waren und zu schreiben aufgehört hatten.
    Der Brief, den ich jetzt öffnete, war typisch für Marie – voller Fehler und verschwommener Gefühle, die wohl aus dem Herzen kamen, aber besser ungesagt geblieben wären. Sie schlug uns vor, einige Zeit bei ihrer Familie in Saint-Martin-de-Boscherville zu verbringen. Als ich den Brief über den Tisch zu Charles schob, hörte ich ihn stöhnen. Ich warf ihm einen Blick zu, und er fügte sich und schwieg. Am Ende der Woche fuhren wir nach Boscherville.
    Charles ertrug die überwältigende Gastfreundschaft der Perraults zwei Tage lang; dann entschied er, ein Auftrag erfordere dringend seine Anwesenheit in Rouen. Am gleichen Nachmittag, an dem er abgereist war, entdeckten Marie und ich, daß ein einsam gelegenes, steinummauertes Haus am Rand des Dorfes zu verkaufen war.
    Es war von Efeu umrankt, geräumig, aber düster, und sein Garten und Gemüsegarten waren von dem bisherigen Bewohner vollkommen vernachlässigt worden. Aber ich verliebte mich auf der Stelle in das Haus.
    »Es ist zu weit weg von Rouen«, sagte Charles entsetzt, als er zurückkehrte.
»Es ist wunderschön«, murmelte ich.
»Es erfordert viel Arbeit, um es herzurichten.«
»Das ist mir gleich. Oh, Charles, ich möchte das Haus so gern haben! Es ist so . . . so romantisch!«
Er seufzte, und ich sah, wie die Sonne auf den ersten silbernen Fäden glänzte, die sich in seinem pechschwarzen Haar bemerkbar machten.
»Nun gut«, sagte er mit der vertrauten, resignierten Duldsamkeit. »Wenn es gar so romantisch ist, dann werden wir es wohl nehmen müssen.«
Und so kamen wir in das verschlafene Dorf Boscherville.
Im Mai war das alte Haus völlig renoviert und im neuesten Pariser Stil möbliert.
Es war ein vollkommenes kleines Schlößchen, das die Ankunft meines vollkommenen kleinen Prinzen erwartete.
    Der 3. Mai 1831 ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Es war heiß, unzeitgemäß heiß für Anfang Mai, und ich lag auf dem Sofa wie ein gestrandeter Walfisch, fächelte mir Luft zu und ließ mir vom Hausmädchen Limonade bringen.
    Ich war müde und mißgelaunt. Meine zweijährige Spanielhündin Sally tobte im Salon herum, ließ immer wieder neben meiner Couch ihren Ball fallen und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
    »Es ist zu heiß, um in den Garten zu gehen«, brummte ich. »Du wirst mit Simonette vorlieb nehmen müssen.« Und ich rief nach ihr.
Simonette erschien in der Tür, hastig ihre Schürze glättend.
»Ja, Madame?«
»Bring diesen Quälgeist von einem Hund nach draußen.«
Bei dem nun folgenden wilden Aufbruch fiel meine neue Tischlampe zu Boden, der weiße Glasschirm zerbrach, und Petroleum floß auf den Teppich. Mein Wutschrei trieb Hund und Mädchen aus dem Zimmer. Auf Händen und Knien wischte ich ungeschickt und erfolglos an dem Fleck herum, als Marie erschien.
»Er ist ruiniert!« schluchzte ich zornig. »Mein schöner neuer Teppich ist verdorben!«
»Nein, das ist er nicht«, sagte Marie in ihrer aufreizend vernünftigen Art. »Es ist wirklich nur ein Fleck. Wenn wir diese kleine Brücke darüberlegen, sieht ihn niemand.«
»Ich will
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher