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Kay Susan

Titel: Kay Susan
Autoren: Das Phantom
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wußte ich. Es würde nicht möglich sein, den monströsen Geist zu ignorieren, der sich hinter der kleinen weißen Kindermaske rasch entwickelte.
    Eines Abends, ungefähr sechs Monate nach seiner Geburt, gab es ein schreckliches Gewitter. Der Wind ließ die Scheiben klirren und heulte im Kamin. Der Regen trommelte aufs Dach, direkt über uns grollte der Donner, und jeder Blitz erleuchtete das Zimmer für den Bruchteil einer Sekunde taghell.
    Ich haßte es, bei Gewitter allein zu sein. Ich hielt Ausschau nach Sally, die ebenfalls Angst vor Gewitter hatte und normalerweise längst unter meinen Röcken gekauert hätte, aber sie war nicht da. Die Tür zur Diele stand offen, und ich nahm an, sie sei nach oben gelaufen, um sich unter dem Bett zu verkriechen.
    Plötzlich hörte ich ein lautes Krachen aus dem Schlafzimmer im Dachgeschoß, das Geräusch von etwas Schwerem, das zu Boden fiel. Erschrocken rannte ich die Treppe hinauf.
    Von der Tür zu Eriks Zimmer aus konnte ich die leere Wiege auf der Seite liegen sehen, und in der Mitte des Raumes, in einiger Entfernung, machte sich der Hund an einem kleinen, weißen Bündel zu schaffen.
»Hör auf, Sally!« schrie ich. »Weg, Sally, oder es setzt Prügel!«
    Erstaunt und erleichtert sah ich, daß der Hund gehorsam zu mir getrottet kam, sich setzte und mit dem haarigen Schwanz über die nackten Bodendielen wedelte.
    Ich wagte kaum, das kleine Bündel anzusehen, das noch immer auf dem Boden lag. Als ich mich aufraffte, hinzugehen und es aufzuheben, erkannte ich schockiert, daß das nicht nötig war.
    Es kam zu mir!
Instinktiv wich ich bis zum Treppenabsatz zurück, aber ich konnte die Augen nicht von den rudernden, rutschenden Bewegungen wenden, mit denen Erik sich durch das Zimmer schob. Und dann erkannte ich ebenso entsetzt, daß er nicht auf mich zukam, sondern auf den Hund.
    Sally beobachtete ihn aufmerksam, den Kopf zur Seite gelegt, die Ohren neugierig hochgestellt. Als er seine dürren Fingerchen auf eine ihrer Pfoten legte, knurrte sie tief in der Kehle, bleckte aber nicht die Zähne.
    Ich stand wie angewurzelt. Mit erstarrter Faszination sah ich zu, wie er sich in eine sitzende Stellung hochzog, wobei er sich an dem Hund festhielt, und dann eine Hand ausstreckte, um nach ihrer Schnauze zu greifen.
»Sally«, sagte er, sehr langsam und deutlich. »Sally!«
    Ich mußte mich auf das Treppengeländer stützen. Das konnte doch nur ein Traum sein!
»Sally, Sally!« wiederholte er immer wieder.
Der Hund stieß mit der Schnauze nach dem kleinen maskierten Gesicht, und ich hörte den dumpfen Aufprall auf den nackten Dielen, als das Baby das Gleichgewicht verlor. Ich schrie auf, aber ich konnte mich noch nicht bewegen.
Ich sah, wie der Hund ihn sanft mit der Pfote berührte.
Und dann, zum ersten Mal, hörte ich Erik lachen.
Drei Monate später konnte er laufen und sprach meine Worte nach wie ein Papagei.
    Jetzt war es unmöglich, seine Anwesenheit zu ignorieren – seine Stimme und seine tastenden Hände schienen überall zu sein. Die einzigen Ruhepausen waren die wenigen Stunden, wenn er in Sallys Korb kletterte und zusammengerollt neben ihr schlief. Er nannte mich Mama (Gott weiß warum, ich hatte es ihm gewiß nicht beigebracht!), aber ich fürchte, daß er in dieser ersten Zeit glaubte, der Hund sei seine Mutter. Sally schien ihn gut leiden zu können und behandelte ihn mit einer Art ungeschickter Zuneigung, die sie vielleicht einem fremden Hundebaby erwiesen hätte. Marie sagte mir, ich solle das nicht dulden; sie sagte, es sei nicht richtig, daß ich Erik in dem Glauben aufwachsen ließe, er sei ein Tier.
    »Es hält ihn für ein paar Stunden ruhig«, erwiderte ich müde. »Wenn du glaubst, du könntest es besser machen, dann nimm ihn nach Hause zu deiner Mutter mit!«
Das war das Ende dieses Gesprächs.
    Ich bemühte mich sehr, mich mit der Situation abzufinden. Ich vermochte dem Kind zwar keine körperliche Zuneigung entgegenzubringen, aber ich war entschlossen, mir die Befriedigung seiner Erziehung zu gönnen.
    Seine abnorm beschleunigte Entwicklung schien sich nicht zu verlangsamen. Im Alter von vier Jahren konnte er die Bibel lesen und meisterte Übungen auf Geige und Klavier, die ich erst mit acht Jahren versucht hatte. Er kletterte wie ein Affe, und es gab nichts, was ich der Reichweite seiner entschlossenen Hände entziehen konnte. Wiederholt nahm er meine Uhren auseinander und bekam die verblüffendsten Wutanfälle, wenn er sie nicht wieder zusammensetzen
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