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Kay Susan

Titel: Kay Susan
Autoren: Das Phantom
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allein ließ. Mein Schlafzimmer war der einzige Raum im Haus, der einen Spiegel enthielt, und es war Erik verboten, ihn zu betreten; aber ich vertraute nicht auf seinen Gehorsam, wenn ich außer Sicht war. Er war unersättlich neugierig.
Er folgte mir die Treppe hinunter, setzte sich verloren auf die unterste Stufe und beobachtete mich durch die Maske.
»Wie ist es im Dorf?« fragte er sehnsüchtig. »Ist die Kirche sehr schön?«
»Nein«, log ich hastig. »Sie ist ganz gewöhnlich, eigentlich eher häßlich. Sie würde dich überhaupt nicht interessieren. Und das Dorf ist voller Leute, die dich erschrecken würden.«
»Darf ich mitkommen, wenn ich dir verspreche, nicht vor ihnen zu erschrecken?«
»Nein!«
Ich drehte ihm den Rücken zu, um meine Besorgnis zu verbergen. Ich war beunruhigt, seine zwanghafte Musikliebe könne jetzt stark genug sein, um eine Angst zu überwinden, die ich ständig genährt hatte. Mein Instinkt hieß mich, ihn vor einer Welt zu beschützen, die unweigerlich versuchen würde, ihm Schaden zuzufügen. Selbst Marie und Vater Mansart stimmten darin überein, ich müsse ihn von Menschen fernhalten.
Ich wußte, Unwissenheit und Aberglaube würden ihn zerstören. So sorgfältig ich auch vermieden hatte, Erik zur Schau zu stellen, meine Fenster wurden noch immer eingeworfen, mehr als ein gemeiner Brief war unter unserer Haustür durchgeschoben worden und hatte mir angeraten, Boscherville zu verlassen und »das Monster« mitzunehmen. Es kostete mich ungeheuren Mut, mich jeden Sonntag dem grimmigen, ablehnenden Schweigen der Gemeinde zu stellen, mit Marie in der hintersten Bank zu sitzen und erhobenen Hauptes die primitive Feindseligkeit ringsum zu ignorieren. Niemand wollte mich hier, aber meine Anwesenheit zeigte meinen Trotz und war ein Symbol meiner Weigerung, mich aus meinem Heim vertreiben und davonjagen zu lassen.
Mein Haus – dieses malerische, hübsche Haus, auf das ich einst so stolz gewesen – war für mich jetzt nur noch ein Kerker in der Bastille. Wenn ich aus der Kirche zurückkam, genügte der Anblick seiner efeubewachsenen Mauern, um mir das Herz schwerzumachen; doch der Gedanke an das Kind hinter den sorgfältig verschlossenen Türen, das geduldig und vertrauensvoll auf meine Rückkehr wartete, zwang meine zögernden Schritte stets auf den Pfad zum Haus. In letzter Zeit hatte ich, wenn ich näherkam, immer die weiße Maske hinter dem Fenster des Schlafzimmers im Dachgeschoß gesehen und Eriks wachsende Angst gespürt, eines Tages würde ich nicht wiederkommen.
»Sitz nicht auf der Treppe!« sagte ich streng. »Geh und lern deinen Text für heute.«
»Ich mag nicht.«
»Es interessiert mich nicht, was du magst!« antwortete ich kalt. »Ich werde dich abfragen, wenn ich wiederkomme.«
Er schwieg. Ich griff nach meiner Handtasche; plötzlich verkündete er entschlossen: »Ich werde ihn so verschwinden lassen, daß du ihn nicht wiederfindest . . . genau wie die Schere. Ich kann alles verschwinden lassen, wenn ich will, Mama – sogar das Haus!«
Er sprang von der Treppe und rannte an mir vorbei in den Salon, als erwarte er, geschlagen zu werden. Als er fort war, lehnte ich mich zitternd vor Angst an die Wand. Ich versuchte mir einzureden, daß das nur eine alberne, kindische Drohung sei. Aber ich hatte jetzt Angst wegzugehen und ihn seinen seltsamen, unkindlichen Erfindungen zu überlassen. Ich wagte mir nicht vorzustellen, welche schrecklichen Mittel er sich ausdenken würde, um das Haus verschwinden zu lassen.
Als ich mich wieder gefaßt hatte, nahm ich den Umhang ab und ging in den Salon. Ich fand ihn mit Sally auf dem Teppich vor dem Feuer sitzend; er starrte reglos in die flackernden Flammen.
»Ich habe mich entschlossen, heute nicht zur Messe zu gehen«, sagte ich unsicher.
Er drehte sich um, sah mich an und klatschte mit unverhohlener Befriedigung in die Hände.
»Ich habe gewußt, daß du nicht gehen würdest«, sagte er.
    Erst war ich sein Kerkermeister gewesen; jetzt war er meiner. Ich fühlte mich, als sei ich in ein Grabmal eingeschlossen, um die Mumie eines kindlichen Pharaos zu bedienen. Wild lehnte ich mich gegen diese Gefangenschaft auf, Liebe, Haß, Mitleid und Angst umflatterten mich wie Aaskrähen und ließen mich von einem Gefühl ins andere taumeln, bis ich mich selbst kaum noch erkannte, wenn ich in den Spiegel blickte, der mein Schlafzimmer schmückte. Ich war dünn und abgehärmt, meine Augen schauten seltsam wild, und obwohl die Umrisse meiner Schönheit
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