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Katrin mit der großen Klappe

Katrin mit der großen Klappe

Titel: Katrin mit der großen Klappe
Autoren: Marie Louise Fischer
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von
Hilfsarbeitern durchgeführt, und zwar am laufenden Band. Einer oder eine setzt
den ganzen Tag nur Ärmel ein, eine andere näht nichts als Knopflöcher, wieder
eine andere nur die Knöpfe an! Also, worauf ich hinauswill, auf diese Weise muß
ein Anzug billiger herzustellen sein, als wenn man sich einen vom Schneider
machen läßt.“
    Als sie merkte, daß Silvy sich
kaum noch zurückhalten konnte, redete sie rasch weiter: „Das ist auch wirklich
so! Das weiß ich von meinem Vater. Ein Anzug, den man fertig kauft, von der
Stange nennt man das, ist billiger als ein vom Schneider gefertigter!“
    „Ausgezeichnet, Leonore“, lobte
Frau Dr. Mohrmann, „mir scheint, du hast dir über diese Dinge schon öfters den
Kopf zerbrochen...“
    Leonore strahlte, sagte aber
rasch: „Ach, nein, das ist mir nur gerade so eingefallen. Ruth hat mich auf den
Gedanken gebracht.“
    „Einen sehr richtigen
Gedanken“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „zu schade, daß du ihn nicht verteidigen
konntest, Ruth. Es ist vollkommen richtig, die industrielle Herstellung und
Bearbeitung hat die Verbrauchsgüter entscheidend verbilligt. Zu Beginn dieses
Jahrhunderts und vor allem zu Ende des vorigen, als die Industrie noch in den
Kinderschuhen steckte, waren viele Güter, deren Gebrauch uns heute ganz
selbstverständlich ist, nur einer kleinen Gruppe von Reichen vorbehalten. Die
armen Leute, und das waren damals die allermeisten, waren wirklich arm. Es
fehlte ihnen nicht nur das Geld auf der Bank, sondern sie hatten auch keine
Mäntel, statt dessen ein Umschlagtuch, höchstens ein Paar Schuhe, kein Kleid
zum Wechseln, versteht ihr? Wenn wir heute hören, was damals alles kostete, so
scheint uns das außerordentlich wenig. Aber wir vergessen, daß das Geld damals
einen ganz anderen Wert hatte und daß die Menschen damals unverhältnismäßig
weniger verdient haben. Wenn eure Eltern heute klagen, daß Lebensmittel und
Verbrauchsgüter in den letzten Jahren teurer geworden sind, so hängt das mit
dem schwankenden Wert des Geldes zusammen. Woran das liegt, ist zu kompliziert,
um es euch begreiflich zu machen. Es ändert nichts an der Tatsache, daß die
Industrie der breiten Masse, also uns allen, das Leben erleichtert hat. Sie hat
uns Gebrauchsgüter und Lebensmittel erschwinglich gemacht und uns zudem den
Zugang zu Luxusgütern eröffnet, von denen unsere Großeltern kaum zu träumen
gewagt hätten. Was hat die Industrialisierung noch mit sich gebracht?“
    „Reklame!“ platzte Olga heraus.
    Einige der Mädchen lachten.
    Olga sprang auf und schrie:
„Ihr seid gemein! So gemein seid ihr! Ich kann sagen, was ich will, ich werde
ausgelacht! Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Sie rannte zur Türe.
    Aber Frau Dr. Mohrmann vertrat
ihr den Weg und fing sie ab. „Hoppla“, sagte sie, „nun mal nicht so stürmisch!
Deine Kameradinnen haben ja nur gelacht, weil du deinen Schmollwinkel so
unerwartet verlassen hast. Deine Antwort war vollkommen richtig.“
    „Dann war es doppelt gemein,
mich auszulachen.“
    „Unsinn, Olga, du bist einfach
überempfindlich. Und fang jetzt bloß nicht an zu weinen, das ist doch wirklich
zu albern.“
    Olga kehrte langsam auf ihren
Platz zurück, und es war ihr anzusehen, daß sie sich sehr schlecht behandelt
fühlte.
    „Die Industrie muß Reklame
machen, sie muß werben, um das, was sie herstellt, zu verkaufen“, erklärte Frau
Dr. Mohrmann. „Aber ich wollte eigentlich auf eine andere Antwort hinaus. Die
Industrie hat einen ganz unmittelbaren Einfluß auf unser privates Leben...
genauer gesagt... auf euer privates Leben! Denkt mal nach!“
    Sie ließ ihren Schülerinnen
Zeit, sah sich erwartungsvoll in der Klasse um, aber niemand meldete sich.
    „Na, Silvy?“
    „Es wird gestreikt.“
    „Auch, aber das hat kaum etwas
mit eurem privaten Leben zu tun... eurem Familienleben!“ Sie hatte das letzte
Wort ganz besonders betont.
    Aber keinem der Mädchen fiel
ein, worauf sie hinauswollte.
    „Leonore!“ sagte Frau Dr.
Mohrmann. „Du hast uns doch eben so schön den Unterschied zwischen
Handwerkertum und Industrie erklärt...“
    Leonores rundes braunes Gesicht
wirkte ganz töricht, weil sie vor lauter Nachdenken die Stirn in Dackelfalten
legte und den Mund offenstehen ließ. Sie begriff nicht, was die Lehrerin noch
von ihr wollte.
    „Was war denn dein Großvater?“
versuchte Frau Dr. Mohrmann ihr zu helfen.
    „Mütterlicher- oder
väterlicherseits?“ fragte Leonore zurück.
    Einige ihrer
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