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Karma Girl

Titel: Karma Girl
Autoren: Tanuja Desai Hidier
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aß und wie schnell ich sprach. Abends sahen sie sich Wiederholungen von alten amerikanischen Serien auf einem Fernseher ohne Fernbedienung an (der mir übrigens auch irgendwie bekannt vorkam) und lachten und klopften sich bei Szenen auf die Schenkel, die ich bestenfalls läppisch fand. Sie sangen »I want to live in America« aus West Side Story – tatsächlich nur diese eine Zeile, immer und immer wieder, allerdings mit erstaunlich authentischem spanischen Akzent. Und sie bettelten, dass ich ihnen neue Lieder beibrachte.
    Auch Dadaji konnte mir stundenlang zuhören, aber bei ihm kam ich mir nicht wie ein Clown vor, obwohl – oder vielleicht eher weil – er kein Wort Englisch verstand. Und ich und Marathi sprechen? Nun, als ich als Kleinkind für kurze Zeit in Indien lebte, sprach ich ein paar Brocken, aber bei unserer Ankunft in Amerika muss ich meine minimalen Sprachkenntnisse am Zoll abgegeben haben. Dies war Dadajis ständiger Kritikpunkt an meinen Eltern: Wie konnten sie nur so grausam sein, ihr eigen Fleisch und Blut durch dieses Sprachdefizit voneinander zu trennen?
    »Dieses Amerika, von dem du erzählst, ist wie ein Traum«, sagte er einmal zu mir, während Kavita übersetzte. »Ich bin zu alt, um noch zu reisen. Und es bricht mir das Herz, dass ich mir dein Leben dort überhaupt nicht vorstellen kann. Mach es lebendig für mich, Rani.«
    Rani, das verstand ich; er war der Einzige, der mich so nannte: meine Prinzessin, meine Königin. Ich lag neben ihm auf dem Bett und döste. Als ich meine Augen wieder öffnete, komplett orientierungslos und verpennt, lag Dadaji immer noch neben mir, in seinem ausgeblichenen Pyjama, der einst meinem Vater gehört hatte. Erst da begriff ich, dass er die ganze Zeit neben mir liegen geblieben war und mit seiner Hand, nur ein paar Zentimeter von meiner Stirn entfernt, die Fliegen von meinem Gesicht verscheucht hatte, sodass ich ungestört hatte schlafen können.
    Als ich also nach Amerika zurückkehrte, begann ich, Fotos für ihn zu knipsen. Und er wurde mein größter Fan: begierig, unersättlich. Er antwortete auf alles, häufig, indem er eigene Zeichnungen oder Fotos seinen Briefen beilegte. Wir würden die Sprachbarriere schon überwinden! Es schien so einfach: Wir würden Bilder benutzen, um zu kommunizieren. So schickte ich ihm Fotos von einfach allem – und er freute sich über jede noch so unwichtige Aufnahme (zum Beispiel meiner Spindtür), als wäre es ein Bild geradewegs aus dem Museum.
    Nachdem Bobby O'Malley mit mir Schluss gemacht hatte, sandte ich Dadaji Fotos von der verlassenen Straße, auf der wir uns zum ersten Mal geküsst hatten. Eine einsame Lampe leuchtete in der Ferne. Die Fotos waren allesamt dunkel, grobkörnig und ein bisschen unterbelichtet; wahrscheinlich hatte ich einen Film mit der fal schen Lichtempfindlichkeit benutzt. Ich schrieb dazu: Ein paar Aufnahmen aus unserer Nachbarschaft. Als er ant wortete, schrieb er: Du brauchst ihn nicht. Du brauchst nur eine bessere Kamera. Konzentrier dich beim nächsten Mal mehr aufs Licht. Ich hatte keine Ahnung, woher er es wusste. Meine Eltern fragten mich, als sie den Brief übersetzten, aber ich stellte mich dumm. Das Letzte, was ich wollte, war, über Bobby O'Malley zu sprechen.
    Dem Brief beigelegt war ein Überweisungsbeleg samt Dadajis besonderem Hinweis an meine Eltern, dass das Geld für den Kauf einer »richtigen« Kamera zu meinem Geburtstag bestimmt war.
    So bekam ich sie, mein drittes Auge, weshalb ich sie Chica Tikka nenne, nach dem Puder, das meine Mutter in einem kleinen Töpfchen in unserem Küchenschrein aufbewahrt – demselben lilafarbenen Puder, das ihr ihre Mutter morgens zwischen die Augenbrauen auf die Stirn gedrückt hatte, als sie nach Amerika aufbrach. Chica Tikka, so stellte ich mir vor, konnte weit in die Ferne schauen, sogar bis dahin, wo Dadaji jetzt war. Wann immer ich ein Foto schoss oder einen Film einlegte, fühlte ich seine beschützende Hand nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Wann immer ich durch die Linse blickte, konnte ich ihn regelrecht auf der anderen Seite stehen sehen, wie er mich anschaute, mit so viel Liebe in den Augen, dass ich auf den Auslöser drücken musste, um die Tränen zurückzuhalten.
    Ich war nicht wieder in Indien, also weiß ich nicht wirklich, wie es sich dort zu Hause nun ohne ihn anfühlt.
    Alles, was ich weiß, ist, dass seine Briefe irgendwann nicht mehr kamen. Allerdings schienen dafür plötzlich mehr Briefe von Meera Maasi
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