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Karma Girl

Titel: Karma Girl
Autoren: Tanuja Desai Hidier
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erste Tag vom Rest meines Lebens.

2. KAPITEL
Das dritte Auge
    Ich schlüpfte auf der Veranda aus meinen Schuhen und warf danach die Schulbücher auf das Zweitbett in meinem Zimmer. Während ich kurz auf das Bett blickte, fragte ich mich, wie lang es wohl her sein mochte, seit Gwyn das letzte Mal bei mir übernachtet hatte. Seit Ewigkeiten nicht mehr. Oder besser: seit Dylan nicht mehr.
    Ich hatte zwar nicht viel Zeit, aber ich wollte den Film, den ich heute voll geschossen hatte, schon mal an meinem absoluten Lieblingsort in unserem Haus, vielleicht der ganzen Welt, deponieren: meiner Dunkelkammer. Oder: meiner Verdunkelungskammer, wie meine Mutter sie fälschlicherweise nannte. Also stieg ich die Treppe runter und ging durch den Keller bis ganz nach hinten in mein kleines geliebtes Reich.
    Meine Eltern hatten mir letztes Jahr geholfen, es einzurichten. Die Kammer war einmal eine Art Badezimmer gewesen. Ich glaube, dass meine Eltern ursprünglich vorhatten, im Keller ein weiteres Schlafzimmer für die wachsende Familie einzurichten – aber unsere Familie wurde nicht größer. Oder sie wollten einen Extraraum haben, falls wir Dadaji oder einen anderen Verwandten zu uns holen würden – doch auch dazu kam es nie. Und da der Keller also nicht genutzt wurde, überlegten sie sich schließlich, dass es eigentlich nicht schaden könnte, wenn ich in diesem wunderbar entlegenen Winkel des Hauses meinem Hobby nachgehen würde. Was mir sehr recht war. Denn hier störte mich niemand; ich war in meiner eigenen kleinen Welt, wo nur ich mich auskannte. Und ich verbrachte tatsächlich mehr Zeit unten im Keller als in meinem Zimmer, und zwar seit dem Tag, an dem wir die Kammer einrichteten.
    Ich sah mich in der Kammer um: Da stand mein Vergrößerer, der durch ein Stück Pappe vor aus dem Waschbecken spritzenden Wassertropfen geschützt wurde. Dort standen meine Entwicklungsschalen mit Stoppbad und Fixierer. Ein Schlauch lag im Waschbecken zusammengerollt – immer wenn das Rotlicht an war, sah er aus wie eine Anakonda, die jeden Moment zubeißen konnte. Die Wässerungswanne war eingerahmt vom Waschbecken und meinen Fotopapierstapeln. Dann lagen da noch Pinsel, Schere und Entwicklungszangen.
    Und schließlich die Fotos, die zum Trocknen an der Leine hingen.
    Auf allen Fotos war Gwyn zu sehen. Gwyn auf Gang A, ein Philosophie-für-Einsteiger-Buch in der Hand. Gwyn in einem leeren Klassenzimmer, wie sie gerade mit erhobener Hand den Treueschwur auf die Flagge sprach – und mit der anderen Hand ihren BH am Rücken richtete. Gwyn, wie sie sich auf der glänzenden Motorhaube von Dylans Auto räkelte und mit beiden Händen Peace-Zei chen machte.
    Sofort musste ich an diesen strahlenden Sonnentag zurückdenken. Das Schwarz-Weiß-Foto fing diesen rotweiß-blauen Augenblick perfekt ein, und Gwyn wirkte darauf wie der personifizierte amerikanische Traum: Mit ihrer hellen Haut, ihren blonden Haaren und blauen Augen war sie das Abbild einer Marilyn Monroe unserer Zeit. Und wenn ich wie ihr exaktes Gegenstück wirkte – wie das Negativ zu ihrem Positiv sozusagen –, was war ich dann? Der indische Albtraum?
    Sie hatte ihm also gesagt, ich sei das indische Mädchen. Das indische Mädchen. Irgendwie klang weder die eine noch die andere Beschreibung passend für mich, wenn ich genau in mich hineinhorchte, aber andererseits hatte ich mich auch noch nie bewusst als Amerikanerin gefühlt. Natürlich sprach ich wie alle anderen meinen Treueschwur auf die amerikanische Flagge, Morgen für Morgen, aber wie alle anderen auch dachte ich nie wirklich über die Worte nach. Ich meine, ich wollte auch Freiheit – so wie Gwyn mit ihrem Autoschlüssel und ohne feste Ausgangszeiten –, und Gerechtigkeit für alle wäre auch toll, vor allem auf der Highschool, wo die Leute nicht alle gleich waren (Beweis: Cheerleader). Aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich so viel mit Stars und Stripes zu tun hatte – oder nicht doch eher mit Jeans und Teams.
    Also war ich weder ganz Inderin noch ganz Amerikanerin. Gewöhnlich fühlte ich mich am ehesten als Aus länderin (wenngleich als legale Ausländerin, wie meine Geburtsurkunde, ausgestellt in Jersey, schwarz auf weiß belegt). Ich bezog mich eigentlich nur dann auf diese Bezeichnungen, wenn entweder meine Freunde mich nicht verstanden (dann bildete ich mir ein, es sei, weil ich zu indisch war) oder wenn meine Familie nicht begriff, was ich meinte (natürlich weil ich zu amerikanisch war). Und wenn ich in
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