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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis
Autoren: Uwe von Seltmann
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»Es war am Ostersonntag 1921 - ich werde es nie vergessen. Ich war zwölf Jahre alt. Sein Schreien im Todeskampf hörte man im ganzen Dorf. Erst als der Arzt ihm eine Morphiumspritze gab, beruhigte er sich etwas.« Mir wurde unbehaglich und ich hoffte, dass Opa Bernhard diese Geschichte endlich beendete. Was interessierte mich das Sterben seines Vaters?
    Opa Bernhard schien meine Gedanken lesen zu können. »Ulrich«, sagte er mit ernster Stimme, »Vater hatte keinen Frieden, als er starb. Nicht mit sich und nicht mit Gott. Er hat die Hölle auf Erden erlebt. Und er ahnte, was ihn in der Ewigkeit erwartete.«
    Opa Bernhard verstummte und schaute unter sich. Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Nur das Ticken der alten Küchenuhr und sein schwerer Atem waren zu hören. Er war erschöpft.
    »Ulrich«, brach Opa Bernhard das Schweigen, »irgendwann müssen wir alle sterben. Du und ich.«
    Ich musste schlucken. Opa Bernhard hatte plötzlich alle Lebenskraft verloren. Er wirkte alt und unendlich mutlos.
    »Ich muss dir noch etwas erzählen«, begann er von neuem.
    »Ich spüre, dass meine Zeit bald kommt. Der Herr holt mich heim.«
    »Na, nun übertreib mal nicht«, unterbrach ich ihn betont fröhlich, »du bist noch fit und rüstig, du hast noch viele Jahre vor dir.«
    Opa Bernhard schüttelte den Kopf. »Ich bin müde«, sagte er. »Kannst du mich morgen in den Gottesdienst fahren?«
    »Sicher«, antwortete ich.
    »Dann erzähle ich dir nach der Kirche die Geschichte vom Judenhaus.«
    »Die Geschichte vom Judenhaus?«, fragte ich erstaunt. »Ja«, sagte Opa Bernhard kurz und erhob sich von seinem Stuhl. Er schlurfte zum Schrank und nahm eine Herztablette. »Ich muss ins Bett, damit ich morgen frisch bin«, sagte er lächelnd und bat mich, den Tisch abzuräumen und abzuspülen. Wir wünschten uns gute Nacht, und Opa Bernhard verließ die Küche.
    Ich war verwirrt. Das war das erste Mal, dass ich aufräumen sollte. Ich pflegte es ihm nach dem Essen immer anzubieten, aber er hatte stets abgelehnt. Er sei noch jung, und das bisschen Haushalt schaffe er allein.
     
    Rasch faltete ich den Zettel zusammen, steckte ihn in die Jackentasche und rannte zum Auto. Ich wendete, raste die Straße hinab, durchs Unterdorf, an der Turnhalle entlang und dann bergauf, am Grundstück des Fabrikanten Frick vorbei, der sich am Dorfrand einen Palast mit Sicht ins Tal gebaut hatte. Am Ende der Teerstraße, in einer scharfen Linkskurve, lief mir der Jagdhund vom Flurschütz Röther entgegen. Ich musste bremsen und geriet auf dem matschigen Untergrund ins Schleudern.
    »Dämlicher Köter«, schimpfte ich, als ich in einem Acker zum Stehen kam. Ich versuchte, rückwärts herauszufahren, doch die Räder drehten durch.
    »Warst wohl ein bisschen schnell!?« Ein rundes Gesicht grinste in den Wagen und roch nach Schnaps. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Flurschütz Röther war fast zwei Meter groß und wog mindestens drei Zentner. Ihm hatte es schon in der Grundschule die größte Freude bereitet, Schwächere wie mich zu quälen. Ich mochte ihn nicht. Mein Kumpel Andi und ich fragten uns oft, warum er eine Waffe tragen durfte, denn dass er Nazi war, wusste so ziemlich jeder, und er verheimlichte es auch nicht. Ich wollte ihn schon anfahren, dass er seinen blöden Köter an die Leine nehmen solle, besann mich aber und bat ihn, mir beim Schieben zu helfen.
    »Hast’s wohl eilig, wie?«, hämte er. »Biste verabredet? Ganz schön bescheuert, bei so einem Sauwetter.«
    Halt’s Maul, dachte ich und sagte: »Halt keine Volksreden. Hilf mir lieber. Ich suche Opa Bernhard.«
    »Den habe ich gesehen«, sagte Röther mit wissender Miene und verschränkte die Arme.
    »Wo?«
    »Hinten, beim Italienischen Eck.«
    Er blieb stehen und verfolgte interessiert, wie sich Florians Räder immer tiefer in den Acker gruben.
    »Du sparst dem Schmidtbauer eine Menge Arbeit.«
    Ich kochte. »Sei doch einmal Mensch«, flehte ich ihn an. »Opa Bernhard ist in Lebensgefahr!«
    »Lebensgefahr?« Röthers Grinsen wurde immer breiter. »Erzähl!«
    »Da gibt es nichts zu erzählen«, sagte ich betont ruhig. »Schieb mich hier raus und hol einen Arzt.«
    »Arzt?«, fragte Röther und grinste noch immer. »Wozu?« Ich schlug meine Hände aufs Lenkrad, meine Brust schnürte sich zusammen, mir blieb die Luft weg. Dann erinnerte ich mich daran, dass Andi und ich Röther einmal im Wald bei einer Wehrübung mit anderen Nazis beobachtet hatten. »Volksgenosse Röther!«, brüllte
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