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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis
Autoren: Uwe von Seltmann
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Familien. »Einen habe ich vergessen, den Geiger Ehrlichmann. Der war irgendwie mit allen verwandt.«
    Onkel Alfred nickte anerkennend mit dem Kopf. »Der spielte damals im Orchester in der Stadt. War ganz berühmt. Er sah gar nicht aus wie ein Jude, er war groß und blond. Die Frauen waren ganz verrückt nach ihm.« Onkel Alfred kicherte. »Meine Schwester auch. Aber sie hat sich nicht getraut, ein Autogramm zu holen, das musste ich dann machen.«
    »Was ist aus ihm geworden?«, fragte ich. »Er hatte Glück, glaube ich«, antwortete Onkel Alfred und biss sich auf die Unterlippe. »Schon vor der Nazizeit hat ihm jemand bei einer Schlägerei alle Finger der rechten Hand gebrochen. Da kann ich mich gut dran erinnern, weil ich für meine Schwester einen Genesungsgruß schreiben musste. Die Schlägerei war natürlich keine richtige, die war inszeniert, von der SS oder SA. Ehrlichmann ist dann nach Amerika. Dort war ein Onkel von ihm ein berühmter Arzt, der hat ihn wieder zusammengeflickt. Einmal ist Ehrlichmann wiedergekommen. Fünf, sechs Jahre später. Das war 1936, im Jahr der Olympiade, da waren die Nazis etwas lockerer. Da spielte er mit seinem neuen Orchester aus New York bei uns in der Stadt.«
    Onkel Alfred schmunzelte. »Sein Name stand nicht auf dem Plakat, aber alle Frauen wussten trotzdem, dass er spielt. Auch die Nazifrauen waren im Konzert und haben geklatscht. Die Frau vom Gauleiter hat ihm Blumen überreicht, die Frau vom NS-Kulturwart auch. Ich habe es genau gesehen, weil ich dabei war. Wegen meiner Schwester. Sie war …«
    »Und dann?«, unterbrach ich Onkel Alfred. »Dann ist er wieder nach Amerika, aber erst später«, antwortete er. »Er ist recht jung gestorben, in den fünfziger Jahren. Das hat mir meine Schwester erzählt. Woher sie das wusste, weiß ich nicht. Er soll ein schlechtes Gewissen gehabt haben, weil er seine Verwandten nicht gerettet hat. Die sind ja alle umgebracht worden. Das hat er nicht verkraftet, und dann hat er angefangen zu trinken.«
    »Wie hätte er denn die Karlebachs und Grünsteins und Rosenthals retten können?«, wollte ich wissen. Onkel Alfred zuckte mit den Achseln. »Ich weiß ja auch nichts«. Er rückte an mein Ohr und schaute sich um, ob jemand mithören könne. »Der Ehrlichmann soll ein Verhältnis mit der Frau vom Gauleiter gehabt haben.«
    »Aha«, murmelte ich.
    »Er ist nach dem Konzert noch über ein Jahr in der Stadt geblieben und auch ein paar Mal aufgetreten, so ganz privat, im kleinen Kreis. Meine Schwester hat den Töchtern vom Gauleiter Klavierunterricht gegeben, und da hat sie ihn öfter gesehen. Sie war ganz eifersüchtig, obwohl sie schon verlobt war. Irgendwann ist das Verhältnis dann rausgekommen und der Ehrlichmann ist wieder nach Amerika.« Onkel Alfred schnaufte tief durch. »Das war eine ganz undurchsichtige Geschichte damals«, fuhr er fort. »Der Ehrlichmann muss den Gauleiter mit irgendwas in der Hand gehabt haben. Sonst wäre er ja nicht so ungeschoren davongekommen.«
    Er schaute auf die Uhr und pfiff seinem Struppi. »Wir sehen uns auf der Beerdigung«, verabschiedete er sich. Ich blinzelte in die Sonne und entdeckte den schwarzen Vogel, der nach Opa Bernhards Tod in den Himmel geflogen war. Er hatte wieder seinen Platz im Wipfel der kahlen Eiche eingenommen und blickte auf mich herab. Aus der Ferne läuteten die Glocken zur Mittagsstunde. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte. Ich musste mehr über das schreckliche Geschehen im Judenhaus herausfinden. Das war ich Opa Bernhard, meinem besten Freund, schuldig.
     
    3
     
    Die Beerdigung Opa Bernhards fand mittags um zwei statt, wie alle Beerdigungen in unserem Dorf. Die Friedhofskapelle war überfüllt. Bertold Pietsch, der als Abgeordneter für eine christliche Partei im Landtag saß, hatte mich gebeten, im Posaunenchor mitzuspielen, den er immer dirigierte, wenn es sein Mandat erlaubte, also dann, wenn ihm ein öffentlichkeitswirksamer Auftritt gewährleistet schien.
    Wir hatten uns links neben dem mit Kränzen überhäuften Sarg formiert. Als Bläser des Tenorhorns stand ich etwas im Hintergrund und konnte von dort die Trauergemeinde beobachten. Opa Bernhard war beliebt und geachtet im Dorf, und obwohl er in keinem Verein Mitglied war, hatte jeder einen offiziellen Abgesandten geschickt: der Männerchor Liedertafel 1890, der Gesangverein Harmonia, die Freiwillige Feuerwehr, der Turn- und Sportverein, der Schützenverein, ja selbst der Dorfverschönerungsverein und der Verein zur
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