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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis
Autoren: Uwe von Seltmann
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unterbrach Onkel Alfred plötzlich die Stille. Er nahm den Feldstecher herunter und legte ihn auf seine Knie. Ich nickte, räusperte mich und antwortete: »Ja.« Onkel Alfred lächelte und zitierte einen Vers aus dem Prediger-Buch im Alten Testament, den auch Opa Bernhard oft gebrauchte: »Mein Sohn, lass dich warnen, denn des vielen Büchermachens ist kein Ende, und viel Studieren macht den Leib müde.«
    Ich lachte kurz: »Wo du Recht hast, da hast du Recht.«
    »Ich habe außer der Bibel und dem Gesangbuch nie ein Buch gelesen«, fuhr Onkel Alfred fort. »Und bin ich nicht ein glücklicher Mensch?«
    »Das stimmt.«
    Ich kannte keinen ausgeglicheneren und zufriedeneren Menschen. Im Dorf wurde er von vielen als einfältig und eigenbrötlerisch belächelt, aber ich schätzte ihn sehr. Fast immer, wenn ich Merklinghausen besuchte, begegneten wir uns, entweder bei Opa Bernhard oder irgendwo im Wald. Als Kind war es für mich das Größte, wenn ich Opa Bernhard und ihn auf ihren gemeinsamen Spaziergängen begleiten durfte. Ich verstand zwar nicht viel von dem, worüber sie sich unterhielten, aber wenn mich Onkel Alfred durch seinen Feldstecher blicken ließ und mir das Erschaute erklärte, vergaß ich alles um mich herum. Onkel Alfred war ein wandelndes Naturlexikon, und ich bewunderte sein Wissen, das er sich allein durch Betrachten und Betasten erworben hatte.
    »Nu isser daheim«, seufzte Onkel Alfred, »jetzt wird es Zeit, dass ich auch bald gehe.« Ich schwieg.
    Onkel Alfred hatte nie geheiratet. »Mensch sei helle, bleib Junggeselle«, pflegte er zu sagen. Er wohnte seit einigen Jahren bei seiner verwitweten Schwägerin, mit der er sich jedoch nicht sonderlich gut verstand, wie er bisweilen anklingen ließ. Opa Bernhard und er waren seit Menschengedenken befreundet. Im Gottesdienst saßen sie stets nebeneinander, immer in der gleichen Bank, immer auf demselben Platz. Unter Konfirmanden hießen die beiden, von Jahrgang zu Jahrgang weitergegeben, Pat und Patachon. »Onkel Alfred«, bat ich, »erzähl mir vom Judenhaus.«
    »Vom Judenhaus?« Er schaute mich erstaunt an. »Von dem, wo jetzt das Bürohaus vom Frick steht?« Ich nickte.
    »Och, das ist doch schon lange her, dass es abgerissen wurde.«
    »Ja«, sagte ich, »daran kann ich mich erinnern. Wer hat denn darin gewohnt?«
    »Ja, Ulrich, da muss ich mal überlegen.« Er runzelte die Stirn. »Zuletzt die Lisbeth Schöler, die war eine alte Hexe, das war die Tante vom Oberkirchenrat Knecht. Die hat alle anderen rausgeekelt. Vorher waren da Flüchtlinge aus Schlesien drin, zwei oder drei Familien.«
    »Und vor dem Krieg?«
    »Vor dem Krieg?« Onkel Alfred schob die Unterlippe über seine Oberlippe, nahm den Hut ab und kratzte sich.
    »Ja …«, sagte er zögernd, »da muss ich überlegen. Ich bin ja erst 46 ins Dorf gekommen.«
    »Ach«, sagte ich erstaunt, »ich dachte, du hättest immer hier gewohnt.«
    »Nein, nein. Ich bin aus der Stadt. Als ich aus der Gefangenschaft wiederkam, lag mein Elternhaus in Schutt und Asche. Ich hatte nichts mehr außer dem hier«, sagte er, nahm seinen Feldstecher in die Hand und schaute kurz hindurch. »Im Dorf habe ich Arbeit bekommen, beim alten Frick, der brauchte Leute, weil er nun keine Fremdarbeiter mehr hatte. Ich war mit dem Bernhard in der Modellschreinerei, als Hilfsarbeiter.«
    Er warf ein Stöckchen in Richtung des kleinen Teiches, in dem sich die Sonne spiegelte. Sein Struppi jagte hinterher, verlor auf dem feuchten Gras das Gleichgewicht, überschlug sich und rutschte ins Wasser. Mit vorwurfsvollem Blick rannte er zurück, das Stöckchen im Maul, und schüttelte sich. Axel, von einigen Tropfen getroffen, knurrte leise und drehte seine Schnauze gähnend auf die andere Seite. »Doch, warte mal«, sagte Onkel Alfred, während er das Stöckchen erneut warf. »So langsam entsinne ich mich. Juden haben dort gewohnt. Aber die sind alle tot. Im KZ umgebracht.« Er legte eine Hand an seine Kehle. Ob er noch wisse, wie die Leute hießen, fragte ich. »Es gab ja hier in der Gegend nicht viele Juden«, antwortete er, »eine Familie namens Rosenthal, das waren Vieh- und Pferdehändler und die zogen immer über die Dörfer. Dann die Karlebachs, das waren Juweliere. Und die Grünsteins, denen gehörte ein Kaufhaus. Die Karlebachs und die Grünsteins lebten in der Stadt. Sie waren geachtete Leute. Viele wussten gar nicht, dass sie Juden waren.« Er zählte an seinen Fingern und murmelte noch einmal die Namen der jüdischen
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