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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis
Autoren: Uwe von Seltmann
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nur den Fuß des massiven Eichentisches. Sie wolle ihn sogar in Berlin besuchen, und sie hätten auch schon einen Termin ausgemacht, plauderte er, aber ich war mit meinen Gedanken wieder bei Opa Bernhards Zettel. »Du hast doch noch deinen alten Chemiebaukasten«, sagte ich kurz nach Mitternacht zu meinem Kumpel Andi. »Ja, der ist irgendwo hier im Keller«, antwortete er, während er eine Flasche Pils öffnete. »Aber wozu brauchst du den?«
    Ich zog den Zettel aus der Jackentasche und legte ihn auf den Campingtisch. Andi nahm ihn und begann zu lesen. »Es ist zu dunkel hier«, sagte er und kramte nach einer starken Taschenlampe. »Tja«, sagte er nach einer Weile und pfiff durch die Zähne, »jetzt ist der Herr Journalist wohl neugierig, wer die beiden Männer sind und was sie angestellt haben.«
    »Erraten«, sagte ich.
    »Kein Problem«, meinte er dann, verließ die Vorratskammer und kehrte etwa eine halbe Flasche Bier später mit dem Chemiebaukasten zurück. »Das haben wir doch schon als Kinder gemacht. Eine unleserliche Schrift entziffern, kann doch jeder.«
    Ich vertraute mich ihm an und spähte ihm beim Mixen eines Pulvers über die Schulter.
    »Das müssen wir über das Papier streichen«, erklärte er, »und dann das Papier über eine Kerze halten. Dann wird jede Schrift sichtbar.«
    »Im Ernst?«, fragte ich ungläubig. »Klar«, sagte er und wühlte nach einer Kerze. »Der Bunsenbrenner tut’s auch«, schnaufte er mit hochrotem Kopf, als er keine Kerze fand. Er blies den Staub von dem Brenner.
    »Mach keinen Quatsch«, versuchte ich einzuwenden, aber Andi war nicht mehr zu bremsen. Seine Zunge fuhr unablässig über die Lippen und er kniff die Augen zusammen. »Volle Konzentration. Wie im OP«, murmelte er und strich das Pulver sorgfältig über den Zettel. »So, und jetzt der Brenner.«
    Ich hatte den Eindruck, dass er mich überhaupt nicht mehr wahrnahm, und versuchte, mäßigend auf ihn einzuwirken. »Wer ist hier der Praktiker?«, stieß er mit zusammengepressten Lippen hervor.
    Ich schwieg und zündete ein Streichholz an. Andi drehte am Regler des Brenners. »Jetzt«, befahl er.
    Ich hielt das Streichholz über den Brenner. Eine Stichflamme tauchte den Raum für einen Moment in gleißendes Licht, dann war es wieder so dunkel wie zuvor. Es stank nach angesengten Haaren und verbranntem Papier. »Der Zettel!«, brüllte ich und goss Bier über den Tisch, in der Hoffnung, noch etwas retten zu können. Aber es war zu spät. Andi hielt nur noch verkohlte Überreste in der Hand. »Entschuldigung«, murmelte er und lachte dann los: »Was haben wir für einen Spaß!«
    »Wenn du später im OP auch so einen Spaß hast, muss Oleander Überstunden machen«, knurrte ich und verließ wutentbrannt den Raum.
     
    4
     
    Als ich mich am nächsten Morgen gegen elf Uhr aus dem Bett quälte, saß mein Bruder schon in der Küche und frühstückte. Er aß einen Teller Haferflocken und hatte die Lokalseite der Lokalpost aufgeschlagen. »Hier«, begrüßte er mich kauend, »ein Artikel von dir.«
    »Und?«, fragte ich, während ich im Kühlschrank nach Wurst und Käse suchte. »Langweilig.«
    Ich überflog den Artikel und erkannte, dass ich ihn vor vier Monaten, zu Beginn der Semesterferien, geschrieben hatte. »Stimmt«, gab ich meinem Bruder verwundert recht. Ich war mir eigentlich sicher, die wirklich misslungene Geschichte aus dem Computersystem der Lokalpost gelöscht zu haben. Dann fragte ich ihn, wann er wieder nach Berlin fahre. »Keine Ahnung. Vielleicht am Samstag.« Damit war das Gespräch zunächst beendet, und wir vertieften uns beide in die Lokalpost.
    Nach ungefähr einer Viertelstunde klingelte es an der Haustür.
    »Mach du auf!«, befahl mein Bruder. »Nein. Du!«
    »Du!«
    »Nein, du.«
    Wir rührten uns beide nicht vom Fleck. Es läutete noch einmal, diesmal heftiger. Von draußen tönte Andis Stimme: »He, macht endlich auf, ich weiß, dass ihr da seid!«
    »Dein Kumpel«, sagte mein Bruder. »Gewesen«, widersprach ich.
    Als das Klingeln meinen Bruder nervte, öffnete er die Haustür. Herein stolzierte ein leidender Andi, der seine schmerzerfüllte Miene demonstrativ zur Schau trug. Über seinem rechten Auge klebte ein Pflaster, seine linke Hand war bandagiert.
    »Verbrennungen zweiten Grades!«, klagte er. »Alles nur wegen dem blöden Zettel.«
    Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und griff mit seiner gesunden Hand nach einem Brötchen. Ich tat so, als ob ich ihn nicht wahrnähme.
    »Was ist denn
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