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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis
Autoren: Uwe von Seltmann
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passiert?«, wollte mein Bruder wissen. Andi hatte nur auf diese Frage gewartet. Wort- und gestenreich, gespickt mit einer Fülle von Halbwahrheiten und Übertreibungen, immer wieder unterbrochen von einem genussvollen Kauen, schilderte er die nächtlichen Ereignisse im Kartoffelkeller. »Und alles nur, weil der Herr Journalist Detektiv spielen will«, schloss er seinen Bericht und belegte sich das letzte Brötchen.
    Mein Bruder sagte zunächst nichts und fragte dann, wie ich denn nun weiter vorgehen wollte. Andi war enttäuscht, dass sein Lamento keinen Adressaten gefunden hatte. Ich zuckte mit den Achseln. »Heute Mittag fahre ich zur Lokalpost und lasse mir Archivmaterial über das Judenhaus heraussuchen. Vielleicht haben die Kollegen damals etwas Geistreiches geschrieben.«
    Mein Besuch bei der Lokalpost verlief anders als geplant. Ich begegnete, was ich eigentlich vermeiden wollte, Chefredakteur Stumpf, der hektisch auf dem Gang hin und her lief und mir mit den Worten »du kommst gerade recht« einen Stapel Papier in die Hand drückte. »Helmut ist ausgefallen. Mach mal die Seite mit den Meldungen und such ein Aufmacherfoto! Auf das untere Drittel kommt eine Anzeige. In zwei Stunden bist du fertig!« Missmutig trottete ich zu Helmuts Schreibtisch. Ehe ich das Passwort für seinen Computer herausgefunden hatte, war schon die erste halbe Stunde vergangen. Ich hasste Meldungen schreiben, denn das war nichts als stumpfsinnige Routine. Meine Laune verschlechterte sich zunehmend, denn Stumpf schneite ständig vorbei und nervte mich mit seinem »Mach hin, mach hin!« oder »Schon fertig?« Dem werde ich’s zeigen, nahm ich mir vor, als ich in einer Kiste nach dem Aufmacherfoto für die Seite suchte. Ich fand ein Bild mit einem Strauß Osterglocken, das ich im letzten April geschossen hatte. »Das passt«, murmelte ich, »wieder zwanzig Mark für mich.« Als Bildunterschrift wählte ich: »An trüben Novembertagen leider nur ein Traum: Ein Strauß Frühlingsblumen.«
    Stumpf überflog die Seite, klopfte mir auf die Schulter und damit war sie abgesegnet. Endlich konnte ich ins Archiv. »Fräulein Schneider«, säuselte ich, »ich bin an einer Mordsstory.«
    »Das sagen alle.«
    Ich warf mich auf den Stuhl neben ihren Schreibtisch und lächelte sie an.
    »Und jetzt soll ich Ihnen wohl wieder etwas Unmögliches raussuchen?«, fragte sie.
    »Sie wären mir eine große Hilfe«, säuselte ich weiter. »Heute nicht, Herr Weißmann!« Sie schüttelte den Kopf. »Bald ist Feierabend, und ich will pünktlich heim.«
    »Fräulein Schneider …«, bat ich mit süßlicher Stimme. Aber sie blieb hart. Ich stand auf und im Gehen fragte ich beiläufig: »Waren Sie in Paris, Fräulein Schneider?«
    »Ich? In Paris?« Fräulein Schneider setzte sich ihre Brille auf und blickte von ihrem Schreibtisch hoch. »Wieso?«
    »Nur so«, sagte ich und schlenderte zu einem anderen Regal. Ich hörte, wie Fräulein Schneider ihre Schere beiseite legte.
    »Warum soll ich in Paris gewesen sein?«, fragte sie neugierig.
    Ich drehte mich zu ihr herum und lächelte. »So ein tolles Kleid können Sie doch unmöglich hier in der Stadt gekauft haben!«
    Fräulein Schneider blickte an ihrem Kleid herunter und errötete. »Das habe ich doch schon lange.«
    »Steht Ihnen aber gut«, flötete ich. Ich wusste, dass ich gewonnen hatte.
    Zwei Minuten später fragte Fräulein Schneider, was sie für mich tun könne. Während sie nach Artikeln über das Judenhaus stöberte, genehmigte ich mir in der Kantine einen Kaffee. Auf dem Rückweg hetzte mir Stumpf entgegen. »Ich habe Sie schon gesucht«, tobte er. Immer wenn er mich siezte, drohte Ärger. Er wedelte mit einem Vorabdruck meiner Seite und zeigte auf das Foto: »Osterglocken im November! Sie haben wohl eine Meise!«
    »Sie haben es doch gesehen und abgesegnet«, entgegnete ich.
    Stumpf schnappte nach Luft. »Ich lasse sofort den Andruck stoppen. Die Kosten tragen Sie!«
    »Herr Stumpf«, sagte ich besänftigend, »das Foto ist der Hit. Das weckt die Sehnsüchte der Leser. Was glauben Sie, wie viele Menschen sich in diesen trüben Tagen einen Frühlingsstrauß wünschen?«
    Stumpf drehte sich um und stapfte mit hochrotem Kopf davon.
    »Denken Sie an Ihren Blutdruck«, rief ich ihm nach. »Na warte«, drohte er, »das wird noch Ärger geben!« Gerade noch einmal gut gegangen, atmete ich auf. Ich zog einen Schokoriegel aus dem Automaten und ging ins Archiv. Fräulein Schneider saß schon wieder an ihrem
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