Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Titel: Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
Autoren: Johannes Fried
Vom Netzwerk:
«Etymologien» boten, über die Pippins Hof verfügte? Oder aus realer Erfahrung? Weit hatten Karl, sein Vater Pippin und der Großvater die Grenzen ihres Reiches vorgeschoben. Endlose Kriege hatten den Vater und ihn selbst, Karl, über die Alpen geführt, hatten ihn bis vor Benevent, über die Pyrenäen an den Ebro und die Donau abwärts nach Pannonien, hatten ihn an Elbe und Eider geführt. Aneinander gereiht glichen die zurückgelegten Wege einem Ritt um die ganze Erde. Welche geographischen Kenntnisse, welche Raumvorstellungen leiteten die Aufmärsche? Bestätigten die durch die Kriegszüge gewonnenen Erfahrungen die angelesene Ahnung von den Kontinenten Europa, Asien und Afrika (oder Libyen, wie der dritte Kontinent in antiker Tradition heißen konnte), von ihrer Größe, ihren Völkern, Religionen, Herrschaftsstrukturen und Beziehungsnetzen? Schufen die Kriege ein neues Wissen um Europa?
    Die Blicke der Franken und ihrer Könige richteten sich nach dem nahen Osten und dem nächstgelegenen Süden, selten nachdem Westen, wo Iren und Angelsachsen wohnten, und bis zu Karls Zeit nie nach dem Norden. So begrenzt blieb das Reich der Karolinger, wie weit seine Herrscher auch vordrangen, randseitig, rückte nicht, auch nicht für wenige Jahre ins Zentrum der Welt. Seine Zeitgenossen in Byzanz oder im Reich der Kalifen schalteten und walteten mit dem Weltwissen der griechischen Antike, im Blick auf mächtige Nachbarn und mit ausgedehnten Beziehungen bis nach Indien und dem Fernen Osten. Sie tauschten Gesandtschaften und Wissen mit diesen fernen Ländern. Die «arabischen» Ziffern etwa besitzen ihr Vorbild in Indien. Arabische Kaufleute stießen auf der Jagd nach Sklaven und dem weißen Gold bis tief nach Afrika vor.
    Den Franken blieb solche Weite verborgen. Allein China repräsentierte – geographisch gesehen – eine vergleichbare «Randkultur» wie ihr Reich. Doch der Sohn des Himmels regierte ein Reich zu groß, zu gewaltig, als daß sich das kleine, aufstrebende und dynastischen Zufällen sich verdankende Frankenreich mit ihm hätte messen dürfen. Als großer Vermittler zwischen Fernost und Fernwest erwies sich das arabische Reich, das die Umayyaden aufgebaut und eben, um 750, die Abbasiden übernommen hatten. Nur Sibirien entzog sich noch dem Blick aller Erben der Antike, während Skandinavien wenigstens den Iren bekannt war und den Franken nun, in der Zeit Karls des Großen, mit den Einfällen nordischer Piraten näher rückte.
    Von alldem aber sprach man an Pippins oder Karls Hof nicht. Kein erhaltener königsnaher Text handelte von den Fremden und ihren Ländern. Es war, als wüßte man nichts von den benachbarten Regionen und ihren Völkern. Niemand lernte deren Sprache. Die Drachenboote jener Piraten tauchten stets «plötzlich» und um so gefährlicher am Horizont auf, wie aus ortloser Ferne. Seide kam aus Konstantinopel oder «Persien», nicht aus den Ländern jenseits der Seidenstraße. Orientalische Gewürze verwöhnten die fränkischen Gaumen noch wenig, kaum daß der Fernhandel das eine oder andere ihnen zutrug. Wer wußte schon, wenn er ein Beutelchen oder Krüglein erwarb, wo der Zimt wuchs, der Moschusochse sein Sekret lieferte? Gebracht wurden derartige Luxuswarenvon jüdischen Fernhändlern aus Italien, Südgallien oder al-Andalus. Woher diese Waren tatsächlich kamen, erwähnte keine überlieferte Aufzeichnung. China wäre ein unverständlicher Name gewesen. So blieb auch «Europa» ein blasses Schemen.
    Ähnlich stand es um die Vorstellungen der räumlichen Weiten. Wir Heutigen messen Entfernungen in Kilometern, Flächen in Quadratkilometern, Geschwindigkeiten in Kilometern pro Stunde. Wir besitzen maßstabsgerechte Karten, Straßenkarten noch und noch, für ganz Europa, für Asien, für Amerika, besitzen einen Globus und klicken auf «Google Earth». Wir sehen die Welt von oben, aus Flugzeugen und Raumstationen. Die Menschen der Karlszeit, auch die Herren, lebten dem Boden näher. Die Erdkrume war ihnen vertraut, die Saat und Ernte, der Wegrain für das Pferdefutter auf der Reise. Fränkische Markbeschreibungen oder Siedlungsunternehmungen der Karlszeit verraten einen wachen Sinn der Zeitgenossen für das Naheliegende.
    Aber übergreifende Abstraktion zur Raumerfassung des ganzen Reiches oder doch einzelner Regionen desselben, gar deren Einordnung in ein ganzes Weltbild war nicht ihre Sache. Kein Kartenbild erleichterte die Orientierung. Niemand kalkulierte mit Infra- oder Raumstruktur. Doch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher