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Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Titel: Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
Autoren: Johannes Fried
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fragte der Stratege Karl, wie er bequemer von Mainz an Main und Donau gelangen könnte, ließ eine Brücke über den Rhein schlagen und plante einen schiffbaren Main-Donau-Kanal. Beide Unternehmungen scheiterten und wurden von seinen Nachfolgern nicht wieder aufgegriffen. Unbefestigte Wege führten von Ort zu Ort, auch die Fernwege wurden zu Fuß begangen oder von Reitern genutzt, allenfalls von leichten Karren befahren, welche Ochsen zogen, selten Pferde.
    Die Ordnung des Raumes folgte den Kirchenprovinzen, die je ein Erzbischof, den Diözesen, die stets ein Bischof leitete, den Kirchspielen und kirchlichen Gerichtsbezirken, den Grafschaften und der schier endlosen Zahl der Gaue. Sie alle lagen – dem Reiseweg entsprechend – nacheinander, nicht nebeneinander. Kein Zeitgenosse beschrieb mit Hilfe irgendwelcher Provinzen Karls Reich, geschweige denn die Lage dieses Reiches inmitten fremder Reiche. Vermutlich verfügte auch Karl über keine Übersicht über sie alle.Auch im 9. Jahrhundert besaß kein Herrscher Kenntnis aller dieser mehr oder weniger fest umgrenzten Räume. Kein Alemanne oder Baier, kein Graf oder Bischof hätte die Gaue Ostfrankens oder Sachsens aufzählen können, vielleicht nicht einmal die Landstriche seiner eigenen Heimat. Auch der König mußte das Wissen bei Bedarf von Ortskundigen erfragen. Nichtwissen bedrohte jede Herrschaft. Als man sich 842 anschickte, das Reich zu teilen, mußte eine eigene Kommission eingesetzt werden, nur um die jeweiligen Grenzregionen aufzunehmen[ 2 ].
    Als Baiern oder Sachsen dem Karlsreich eingefügt, als die Herrschaft der Awaren in Pannonien beseitigt war, rüstete sich kein Schreibkundiger, um das Gewonnene in Worte zu fassen. Kein König gab eine Landesbeschreibung in Auftrag. Der Reichtum eines Landes blieb verborgen. Keiner beachtete und beurteilte die künftige Gegenwart der fremden Völker, von denen man wußte, und ihrer Bewohner; niemand die sozialen und politischen Folgen von deren Aufnahme ins Frankenreich. Allein die Bischöfe der Pannonien benachbarten Diözesen Passau, Salzburg und Aquileia stritten um die Missionskompetenz dort. Als normannische Piraten die Küsten bedrohten, wollte Karl Schiffe gebaut wissen, aber Feindaufklärung unterblieb; und eine schlagkräftige Flotte lief auch nicht vom Stapel. Man reagierte, agierte aber nicht im vorhinein. Bestenfalls drangen kontextlose Einzelinformationen an das Ohr des Frankenkönigs. Jenes
Europa
, als dessen Leuchttum Karl sich besingen ließ, wurde, soweit die Überlieferung reicht, zu keiner Zeit reflektiert und gewann über die bloße Auflistung von Provinznamen hinaus keine Gestalt.
    Und die Menschen? Von Karl gibt es – von dem späten Einhard abgesehen – keine gleichzeitige Personenbeschreibung, von einem nach antiker Vorlage geschaffenen Münzbild und vielleicht der berühmten Reiterstatuette des Louvre abgesehen kein zeitgenössisches Herrscherbild. Die Wahrnehmungsmuster, mit denen die soziale Umwelt erfaßt wurde, orientierten sich an Familie, Status und Rang; persönliche Leistungen spielten da keine Rolle. Dem mangelnden Blick für den Raum entsprach somit ein mangelnder Sinn für seine Bevölkerung. Die Menschen wohnten weitgestreut, oftkaum ein Duzend auf den Quadratkilometer. Die weit überwiegend unfreie Bewohnerschaft wurde bestenfalls als Herrschaftsobjekt erfaßt, als abgaben- und dienstpflichtige Leute. Karl unterschied nur Freie und Unfreie; maßgeblich aber waren nur die Großen, die
primores, optimates, maiores, potentes
oder wie immer sie hießen. Kein einziger Knecht am Königshof, keine Magd fand sich genannt, obgleich auch in Aachen mehr unfreies Dienstpersonal als Herren anzutreffen war.
    Es gab – aus der Antike überkommen – stadtähnliche Siedlungskonzentrationen, «Civitates»: Marseille, Arles, Narbonne, Orléans, Paris, Köln, Mainz, Augsburg, Regensburg und andere. Aber wer reflektierte schon den Austausch zwischen Stadt und Land, wie ihn heutige Geographen oder Historiker untersuchen? Niemand verzeichnete die Leistungskraft der Infrastruktur, die Hemmnisse einer zersplitterten Herrschaftsorganisation, den Ertrag der Salz- oder Erzgruben. Wer registrierte schon die Unterschiede zwischen Marseille und Augsburg, Arles und Regensburg? Zwischen dem Norden und Süden, dem Osten und Westen des Karlsreiches? Als Gesandte nach Rom, Konstantinopel oder Jerusalem diente manch einer der Großen Pippins oder Karls; aber keiner hinterließ einen Reisebericht, eine Völker-
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