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Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)

Titel: Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
Autoren: Johannes Fried
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oder Landesbeschreibung; was sie ihren Königen berichteten, entzieht sich weithin unserem Wissen.
    Zwar setzten bald nach Karls Tod die Aufzeichnungen der Urbare und Polyptichen ein, die beschreibenden und zählenden Aufnahmen klösterlicher und kirchlicher Grundherrschaften. Sie zählten auch die Menschen, die auf jeder der überprüften «Hufen» wohnten, namenlos sie alle, Männer, Frauen, Kinder. Aber sie addierten sie nicht zu einer Gesamtbevölkerung, und sei es bloß der eben erfaßten Grundherrschaft oder des fraglichen Ortes. Die Hufner dort waren auf den Grundherrn fixiert oder auf seinen Vertreter, den Meier oder
Judex
, auf die Nachbarschaft, auf die Pfarr- und Gerichtsgemeinde. Der König war fern, auch für Freie kaum zu erreichen, der Graf, des Königs Vertreter, eher gefürchtet als aufgesucht. Genau Buch geführt wurde bestenfalls in kleinem Rahmen. Daß Karl über ein Reich regierte, das vielleicht – wie moderneHistoriker erschließen – etwa 20 Millionen Menschen bewohnten, hätte niemand zu erfassen vermocht.
    Der schollegebundene Freie hatte in der Regel Abgaben zu entrichten, der Unfreie mußte Frondienste leisten, drei Tage die Woche oder einige Wochen im Jahr, um die Felder zu bestellen. Aber wer wollte es zu einem Bruttosozialprodukt addieren? Wer hätte es können? Den Wert solcher Informationen hätte niemand zu schätzen gewußt.
    In der Dimension des ganzen Volkes zu denken, des «Frankenvolkes»,
populus Francorum
, war wohl dem Adel vertraut; aber diese Ganzheit betraf in der Regel nur den Adel selbst, vielleicht noch einige Freie, aber nicht das gemeine Volk. Neben die Franken traten zudem die anderen Völker des Karlsreiches, die «Gentes» der Goten, Burgunder, Alemannen, Baiern, Sachsen, Langobarden und Römer. Sie unterschieden sich durch Selbstbewußtsein, Herkunftswissen, Recht und Tracht, durch Siedlungsweisen und Lebensformen, auch wenn die intergentilen Ehen des Adels, der «Reichsaristokratie»[ 3 ], die Unterschiede zu verwischen begannen. Doch Selbstbewußtsein und gentiles Recht hielten sich bis weit ins hohe und späte Mittelalter, wie etwa Sachsen- oder Schwabenspiegel verdeutlichen mögen.
    Schon gar nicht erfuhr die Bewohnerschaft fremder Länder Beachtung, nicht deren Herrschafts- und Sozialordnung, nicht die Lebensformen, Speisen oder differenzierenden Trachten. Das Fremde blieb fremd. Kein Franke fragte, was die Nordleute zu ihren tollkühnen Fahrten trieb. 4500 aufständische Sachsen – eine der wenigen überlieferten Bevölkerungszahlen – habe Karl hinrichten lassen, hieß es zum Jahr 782 in den «Reichsannalen». Die Zahl war gewiß übertrieben; aber Karl wollte sie – vielleicht zur Abschreckung – festgehalten wissen. Wer aber hätte eine Volkszählung vornehmen können? Später, zum Jahr 798, steht zu lesen, ein Drittel der waffentragenden Männer sei deportiert worden, insgesamt, so läßt sich mit aller Vorsicht berechnen, 1600 Menschen[ 4 ]. Die Zahlen lassen sich schlechthin nicht überprüfen. Zählverfahren zur Volkszählung sind nicht bekannt, eine darauf gerichtete Feindaufklärung noch weniger. Die «Dichte» der Bevölkerung, ihrkontinuierliches Wachstum, das zweifellos zu konstatieren ist und das der moderne Historiker etwa an der Teilung und Viertelung der Hufen im Verlauf des 9. Jahrhunderts wahrnehmen zu können meint[ 5 ], blieben unbeobachtet und in seinen Folgen unbeachtet.
    Lebenserwartung, gar durchschnittliche Lebenserwartung, war keine gedankliche Größe dieser Epoche. Abstraktionen vom realen Leben, von den selbstbezogenen menschlichen Erfahrungen, waren ungewohnt; allenfalls fand sich der
populus
erwähnt, was in der Regel nicht das einfache Volk meinte, sondern jene Großen und Mächtigen, die bei dem entsprechenden Geschehen anwesend waren. Zu Wort kamen nur jene wenigen, die lesen und schreiben konnten und zur machttragenden Elite zählten. Die Dorfgemeinden, soweit es sie schon gab, die Angehörigen der Grundherrschaften, die allenfalls im Hofgericht des Grundherrn oder seines Vogts ein Sprachrohr besaßen, sind für den Historiker für immer verstummt.
    Viele Menschen starben als Säuglinge, manche in reifem, manche in hohem Alter. Karl der Große wurde etwas über 65 Jahre alt, sein Bruder Karlmann 20, seine Schwester Gisela, die Äbtissin von Chelles und von Notre Dame in Soisson, 53, sein Bruder Pippin keine zwei Jahre alt. Von Karls eigenen 18 Kindern erreichten die Äbtissin Theodrada ein Alter von annähernd
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