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Karibische Affaire

Karibische Affaire

Titel: Karibische Affaire
Autoren: Agatha Christie
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sie auf und begab sich langsam zu ihrem Bungalow. Gern hätte sie sich alles noch weiter durch den Kopf gehen lassen, aber sie war dazu einfach nicht mehr imstande. Ihr Kopf machte nicht mehr mit und sann nur mehr auf Schlaf.
    Sie kleidete sich aus und ging zu Bett. Vor dem Einschlafen las sie noch ein paar Verse in ihrem Thomas von Kempen, dann machte sie das Licht aus. Im Dunkel betete sie. Man konnte nicht alles allein tun, man brauchte Hilfe: »Es wird schon nichts geschehen heute Nacht«, murmelte sie hoffnungsvoll.
     
    Miss Marple erwachte mit Herzklopfen und setzte sich auf. Sie drehte das Licht an und sah auf die Uhr: zwei Uhr früh. Zwei Uhr und Unruhe vor dem Fenster! Sie stand auf, zog Schlafrock und Pantoffeln an, hüllte den Kopf in einen Wollschal und trat hinaus, um nachzusehen. Leute mit Fackeln suchten das Gelände ab. Auch Kanonikus Prescott war dabei. Sie ging auf ihn zu.
    »Was ist denn los?«
    »Oh, Miss Marple! Wir suchen Mrs Kendal. Als ihr Mann aufwachte, war ihr Bett leer.«
    Er eilte weiter, und Miss Marple folgte ihm langsam. Wohin mochte Molly gegangen sein? Und warum? Hatte sie das mit Vorbedacht getan? Miss Marple hielt es für möglich. Aber warum? Was war der Grund? Gab es wirklich einen anderen Mann, wie Esther angedeutet hatte? Und wenn ja, wer konnte es sein? Oder gab es einen schlimmeren Grund?
    Miss Marple schritt weiter, wobei sie umherspähte und unters Gesträuch blickte, bis sie plötzlich fernes Rufen hörte:
    »Hier ist es! Hier herunter!«
    Es musste jenseits des Hotelgeländes sein, gegen das Flüsschen zu, das dort ins Meer mündete. So rasch sie konnte, lief Miss Marple in dieser Richtung.
    Offensichtlich waren weniger Leute an der Suche beteiligt, als es anfangs geschienen hatte. Die meisten schliefen noch in ihren Bungalows. An einer Stelle des Flussufers aber hatte sich eine Gruppe gebildet. Jemand drängte sich hastig an Miss Marple vorbei, stieß sie beinahe um und rannte auf die Gruppe zu. Es war Tim Kendal. Gleich darauf hörte sie ihn rufen:
    »Molly! Um Gottes willen, Molly!«
    Nach ein oder zwei Minuten hatte auch Miss Marple die Gruppe erreicht, die aus einem der kubanischen Kellner, Evelyn Hillingdon und zwei eingeborenen Mädchen bestand, welche Tim Platz gemacht hatten. Eben beugte er sich vor, um besser zu sehen.
    »Molly…« Langsam sank er in die Knie. Miss Marple sah den Körper der jungen Frau im Wasser liegen, das Gesicht nach unten. Goldblond flutete das Haar über dem hellgrünen Schal, der ihre Schultern bedeckte. Zusammen mit den Blättern und Binsen des Uferdickichts erinnerte das Ganze an eine Szene aus Hamlet mit Molly als toter Ophelia…
    Als Tim die Hand ausstreckte, mischte Miss Marple sich ein. Deutlich und mit Autorität sagte sie:
    »Bewegen Sie sie nicht, Mr Kendal! Lassen Sie alles, wie es ist!«
    Tim wandte ihr sein verstörtes Gesicht zu.
    »Aber – ich muss – es ist Molly! Ich muss doch…«
    Evelyn Hillingdon berührte seine Schulter.
    »Sie ist tot, Tim. Ich hab’ sie nicht bewegt. Aber ich habe ihr den Puls gefühlt.«
    »Tot?«, sagte Tim ungläubig. »Tot? Sie meinen, sie hat sich ertränkt?«
    »Ja, ich fürchte, es sieht ganz danach aus.«
    »Aber warum?« Es schrie aus ihm heraus. »Warum? Heute Abend war sie noch so glücklich! Warum soll es da wieder über sie gekommen sein! Sie hat doch noch Pläne für morgen gemacht! Und dann rennt sie einfach davon und ertränkt sich? Was hat sie nur dazu getrieben – warum hat sie mir nichts gesagt?«
    »Das weiß ich nicht, mein Lieber«, sagte Evelyn sanft. »Das kann ich nicht wissen.«
    Miss Marple meinte: »Es sollte lieber jemand Dr. Graham holen. Man muss auch die Polizei verständigen.«
    »Die Polizei?« Tim lachte bitter. »Wozu soll die gut sein?«
    »Bei Selbstmord muss die Polizei verständigt werden«, sagte Miss Marple.
    Langsam stand Tim auf.
    »Ich hole Dr. Graham«, sagte er niedergeschlagen. »Vielleicht – kann er – sogar jetzt noch etwas tun.« Er machte sich auf den Weg zum Hotel.
    Nebeneinanderstehend blickten Evelyn Hillingdon und Miss Marple auf das tote Mädchen.
    Evelyn schüttelte den Kopf. »Zu spät. Sie ist schon ganz kalt. Sie muss schon seit gut einer Stunde tot sein. Vielleicht auch schon länger. Eine Tragödie! Und dabei schienen sie so glücklich miteinander zu sein. Vielleicht war sie wirklich nicht zurechnungsfähig!«
    »Nein«, sagte Miss Marple. »Das glaube ich nicht.«
    Evelyn sah sie gespannt an. »Wie meinen Sie das?«
    Der Mond
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