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Kardinalspoker

Kardinalspoker

Titel: Kardinalspoker
Autoren: Kurt Lehmkuhl
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Titelseite des Stadtanzeigers musste Böhnke lange suchen, bis
er einen Hinweis auf den verschwundenen Ratsherrn aus Köln fand sowie eine Notiz
über den Toten vom Tivoli. Er kaufte beide Zeitungen. Gelegentlich machte er sich
das Vergnügen, verschiedene Berichte über ein Ereignis zu lesen. Es war schon erstaunlich,
wie unterschiedlich Journalisten über ein und dieselbe Sache schrieben.
    Der Stadtanzeiger
hatte, so wirkte es jedenfalls auf Böhnke, den Text übernommen, den Sümmerling über
den Toten geschrieben hatte. Lediglich die Vermutung, es könne sich um einen Kommunalpolitiker
aus Köln handeln, hatte der Redakteur weggelassen. Weitaus mehr Platz widmete die
Zeitung dem verschwundenen Ratsmitglied Gerd-Wolfgang Kardinal und der seinetwegen
abgebrochenen Sitzung des Stadtrates. In einem sachlichen Stil wurde der Werdegang
des Politikers skizziert: 45 Jahre alt, verheiratet, ein Sohn, seit acht Jahren
Ratsherr als Mitglied der von ihm gegründeten KGB, von Beginn an Fraktionsvorsitzender.
Die Angabe des Berufes fehlte ebenso wie die Bezeichnung Kardinal, die der Blitz
genannt hatte. Auf ein Foto verzichtete das Blatt. In gewisser Weise wirkte der
Bericht wie ein Nachruf.
    Böhnke gewann
nach der Lektüre des Berichts den Eindruck, als erfreute sich Kardinal nicht sonderlicher
Beliebtheit in der Redaktion des Stadtanzeigers. Mit ein wenig bösem Willen konnte
er interpretieren, Kardinal sei so etwas wie ein Floh im Pelz gewesen oder ein Schmarotzer,
auch wenn dies nirgendwo geschrieben stand. Die kommunalpolitischen Erfolge von
Kardinal seien überschaubar gewesen, sein Einfluss würde überschätzt, er sei in
erster Linie durch unangebrachte, nicht realisierbare Anträge aufgefallen, wie just
durch seinen letzten Antrag, in dem er den Stadtrat aufforderte, sich vorbeugend
gegen den Bau einer möglicherweise geplanten Moschee auszusprechen. Mit einer in
ihrer Nüchternheit eindeutigen Bemerkung des Oberbürgermeisters endete der Bericht:
»Wir werden seinen Antrag zur gegebenen Zeit beraten«, sagte Müller.
     
    Beim Blitz las sich der Bericht über das merkwürdige
Verschwinden von Kardinal völlig anders. Für das Boulevardblatt war Kardinal ein
Mann des Volkes, der es trotz aller negativen Umstände und vieler Widerstände zu
etwas gebracht hatte. Er habe den Begriff ›Fringsen‹ mit neuem Leben erfüllt, behauptete
das Blatt. ›Wie unser unvergessener und beliebter Kardinal Frings nach dem Krieg
hat der Ratsherr Kardinal mit List und Raffinesse allen Widrigkeiten getrotzt und
manchmal unter Umgehung der Obrigkeit seine Ziele erreicht. Und diese Ziele waren
immer darauf gerichtet, uns Kölnern das Leben lebenswerter zu machen. Deshalb trug
Kardinal zu Recht den Namen ›Der Kardinal‹. Als Beispiel nannte der Blitz die Anträge
der KGB für eine kostenlose Benutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs für Hartz-IV-Empfänger
oder kostenlose Schulbücher für deren Kinder.
    Aus einer ähnlichen politischen
Diskussion, über die Sümmerling in Aachen berichtet hatte, wusste Böhnke, dass derartige
Anträge von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Die Fahrpreise wurden von
den Regionalverbünden festgelegt und nicht von den einzelnen Kommunen, und kostenlose
Schulbücher bekamen die Kinder der Bedürftigen ohnehin. Worin die Parallelität zum
Kölner Nachkriegs-Kardinal bestand, verstand Böhnke nicht. Kardinal Frings hatte
tatsächlich das Überleben vor das Leben nach Recht und Gesetz gestellt. Kohlenklau
vom Eisenbahnwaggon oder Kartoffelklauben vom Feld – wer fror und Hunger litt, dem
musste geholfen werden oder er musste sich selbst helfen, wenn ihm niemand helfen
konnte. Da hatte sich der Kardinal immer auf die Seite der Schwächeren gestellt.
Auch wenn er damit aneckte, bei seinen Schäfchen in Köln weckte er Zuversicht, Hoffnung,
Lebensmut. Er erfand das ›Fringsen‹.
    Aber galt dieses Handeln auch für
diesen Ratsherrn? Nein, entschied Böhnke für sich. Kardinal war vielleicht ein gewiefter
Politiker, aber er war kein Kardinal. Auch das Konterfei des Verschwundenen konnte
ihn nicht zu einem Meinungswechsel bewegen. Er blickte in ein rundes, speckiges
Gesicht mit einer wirren, zerzausten Langhaarfrisur und einem feisten Blick. Der
Mann wirkte in seinen Augen wie ein unsympathischer Kotzbrocken.
    Geschickt verstand es der Blitz,
die Begleitumstände der Ratssitzung zu umschreiben, ohne direkt Position zu beziehen.
Da war vom demokratischen Recht der Meinungsäußerung die Rede,
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