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Kannst du mir verzeihen

Kannst du mir verzeihen

Titel: Kannst du mir verzeihen
Autoren: Sarah Harvey
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auszusprechen.
    Sie erzählte niemandem davon und behielt ihr kleines Geheimnis für sich wie einen Schatz, an dem sie sich nur erfreute, wenn sie sicher war, dass niemand anderes zusah.
    Und dann traf sie ihn wieder, abends in einer Bar. Kaum entdeckte sie ihn, verwandelte sie sich von der Zweiundzwanzigjährigen, die sie war, in eine Zwölfjährige. Mit einem einzigen Blick gingen zehn Jahre Selbstbewusstsein und Würde dahin.
    Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er auf sie aufmerksam wurde, was vermutlich auch daran lag, dass sie sich, so gut es ging, versteckte. Und daran, dass er in ein ausgesprochen lebhaftes Gespräch mit seinen Freunden vertieft war.
    Sie konnte sich kaum sattsehen an ihm. Alles an ihm strahlte: seine Augen, sein Lächeln, seine Art. Ihr kam es vor, als sei er doppelt so lebendig wie alle anderen im Raum, dreimal so aufmerksam, viermal so dynamisch, fünfmal so schön. Und darum tausendmal interessanter als alle anderen zusammen. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden, konnte nicht anders, als ihn zu beobachten und zu bestaunen. Jetzt wusste sie, dass das Bild, das sie sich seit ihrer ersten Begegnung von ihm gemacht hatte, nicht nur ein Wunschbild war.
    Dann sah er in ihre Richtung, und bevor sie sich wieder verstecken konnte, hatte er sie entdeckt. Er verstummte mitten im Satz, ließ seine Freunde stehen und kam auf sie zu.
    Â»Hallo. So sieht man sich wieder.«
    Sein Lächeln sprach Bände.
    Sie gingen zu ihr.
    Staunend sah er sich in dem Haus um, das nach außen wie ein ganz normales Cottage daherkam und innen eher einer Galerie oder Bibliothek glich.
    Â»Wow, so habe ich das von der Party gar nicht mehr in Erinnerung, was ist das für ein Haus?«
    Â»Mein Zuhause. Mein Arbeitsplatz. Alles.« Sie zuckte die Achseln.
    Â»Alles«, entgegnete er und sah sie dabei so intensiv an, dass es sie in Verlegenheit brachte.
    Sie brannte darauf, ihm ihre Arbeiten zu zeigen – und hätte sie gleichzeitig am liebsten vor ihm versteckt. Also bot sie ihm erst mal ein Glas Wein an. Kaum hatte er das in der Hand, ging er auf Entdeckungsreise, und sie folgte ihm nervös bis zu der Tür, hinter der sich ihr Atelier befand.
    Er zögerte.
    Die Tür stand einen Spalt offen, was sich dahinter verbarg, war klar – den Teil mit »Und was machst du so?« hatten sie längst hinter sich.
    Hanny, die Illustratorin.
    Bastian, der Arzt.
    Er hatte sich schon gleich im Flur gefragt, ob die Kunst an den Wänden wohl von ihr war. Jetzt blätterte er in ihren Skizzenbüchern, ihren Mappen, den Belegexemplaren der Bücher, die sie bisher illustriert hatte, und fand das alles richtig gut. Er wollte unbedingt mehr über sie erfahren, aber sie war nicht sonderlich gesprächig, und so studierte er ihre Bücherregale, die drei ganze Wände einnahmen.
    Romane, Biografien, Lyrik. Und vor allem: Kunstbücher. Ganze Türme dicker, schwerer Bände.
    Â»Die hast du alle gelesen?« Seine Hand ruhte auf einem ihrer Lieblingswerke. Er lächelte sie an.
    Hannys Magen zog sich unwillkürlich zusammen. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte sein Lächeln. Er bemerkte einen Anflug von Wehmut darin.
    Â»Viele davon gehörten meiner Mutter.«
    Â»Gehörten?«
    Â»Sie hat Bücher geliebt. Überhaupt Sprache. Geschriebene und gesprochene. Ihren Rhythmus. Wie eine Melodie, hat sie immer gesagt.« Ihre Finger strichen zärtlich über ein paar Bücher. »Sie war Schriftstellerin.«
    Â»Was hat sie denn geschrieben?«
    Â»Romane. Liebesgeschichten. Sie war nicht berühmt, aber sie hat sich damit ihren Lebensunterhalt verdient. Was echt erstaunlich ist, ich hatte nämlich immer das Gefühl, dass sie mehr Zeit damit verbrachte, die Bücher anderer Leute zu lesen, als eigene zu schreiben. Sie hatte noch mehr, aber ich habe nicht genügend Platz, jetzt stehen sie in Kisten auf dem Dachboden. Du hättest mal ihre Bibliothek sehen sollen ... Eigentlich war das ganze Haus eine einzige Bibliothek. In jedem einzelnen Zimmer waren Bücher.«
    Â»Klingt toll.«
    Â»War es auch.«
    Â»Aber du wolltest da nicht wohnen bleiben?«
    Â»War zu groß.«
    Zu groß ohne sie.
    Schon seltsam, wie selbst das kleinste alte Haus sich zu groß anfühlen konnte, sobald nur ein einziger Mensch fehlte.
    Â»Aber das hier hätte ihr auch gefallen.« Hanny sah sich um und zuckte die
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