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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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den Weg sieht, der einen hinausführt.‹ Sie spekuliert darüber, was geworden wäre, wenn sie Dad viel früher verlassen hätte, und schreibt über den Raubüberfall. Dann stehen einige Briefe an uns darin. Und sie zitiert aus Gedichten, die sie mochte. Ich habe sie einmal auswendig gelernt. ›… Durch welches Verbrechen, durch welchen Irrtum habe ich meine jetzige Schwäche verdient?‹ Sie wäre ja gern Schriftstellerin geworden. Ich habe im Lauf der Jahre immer wieder darin gelesen. Manchmal kamen mir die Tränen. Unser Vater konnte nicht anders. Aber sie war so viel klüger. So habe ich sie zumindest in Erinnerung.« Berner schüttelte den Kopf und schaute wieder hinaus auf den belebten Applebee’s-Parkplatz. »Ich wünschte, ich wäre ihr nicht mehr böse. Vor allem jetzt. Ich wünschte, ich wäre wie du. Du nimmst alles hin. Das wäre in jeder Hinsicht sinnvoller.«
    »Ich bin ihr aber auch böse«, sagte ich – nicht die Antwort, die sie hören wollte. Ich schaute die zarten, präzisen, verblassten Worte an, die sorgfältig an den hellblauen Linien entlangliefen, nicht in ihrer braunen Lieblingstinte.
    Berner trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Als ich ihr unscheinbares wartendes Gesicht anschaute, blieb es ausdruckslos, obwohl ihre Kiefermuskeln mahlten. Ihre Augen glitzerten. Unsere Unähnlichkeit war heute eine andere als früher.
    »Erinnerst du dich an Rudy?« Sie sog die Lippen nach innen.
    »Ja«, sagte ich.
    »Rudy Rotschopf. Rudy Kawumm. Meine erste große Liebe. Ist das nicht lustig?«
    »Ich hab mal mit ihm getanzt«, sagte ich.
    »Ach?« Ihre Miene hellte sich kurz auf. »Wo war ich?«
    »Du warst dabei. Wir haben alle drei getanzt. An dem Tag, als sie ins Gefängnis kamen.«
    Ich wollte ihren Namen sagen. Mir selbst zuliebe. Ihren richtigen Namen. »Berner«, sagte ich leise.
    »Das ist mein Name.« Sie sagte es heiser, als hätte jemand am Nebentisch geflüstert.
    »Brauchst du irgendetwas?«, fragte ich. »Kann ich irgendetwas für dich tun, egal was?«
    Die Menge im Fernsehen stieß ein weiteres anschwellendes Brüllen aus. Die Gäste im Restaurant klatschten lustlos. Einen Moment lang sagte sie nichts, als wäre das andere Gespräch, das die ganze Zeit parallel in ihrem Kopf ablief, das Gespräch, das wir alle eines Tages führen werden, nunmehr unwiderstehlich geworden. »Du hast alles getan«, sagte sie. »Wir versuchen es doch alle. Du versuchst es. Ich versuche es. Wir alle. Was bleibt uns sonst?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Vielleicht stimmt das.« Keine ausreichende Antwort, fand ich.
    Wir aßen ein bisschen, als das Bestellte kam, aber bei weitem nicht alles. Sie hatte keinen Hunger, und ich hatte im Hotel gefrühstückt. Dann kam der Augenblick, nachdem wir eine Weile ohne großen Gesprächsstoff dagesessen hatten, als sie sagte: »Mir geht’s nicht blendend.« Sie war beim Sitzen unruhig geworden. Sie hatte ihre Tablette genommen. Ich hatte die Seiten in die Plastiktüte zurückgesteckt. Wir waren fertig.
    Ich ging an die Bar, bezahlte die Rechnung und half ihr hoch und zum Ausgang. Sie sah mir nicht danach aus, als könnte sie uns irgendwohin fahren, und ich kannte den Weg zu ihrem Haus nicht. Ich bat die Kellnerin, uns ein Taxi zu holen, das schneller da war, als ich mir vorgestellt hatte. Wir fuhren schweigend nebeneinander auf dem Rücksitz, Berner starrte auf den Verkehr draußen und ich genauso, auf meiner Seite. Ein Ort, den ich nicht kannte. Es hatte ihr nichts ausgemacht, ihr Auto da stehen zu lassen, damit Ray es später abholte.
    Schließlich erreichten wir ihre asphaltierte Seitenstraße voller Trailer, mit den Fahnen und den jungen Bäumen und schicken Autos und Kindern und startenden Flugzeugen am Himmel nicht weit weg. Ray war drinnen. Er wirkte erfreut, dass sie wieder da war. Wir gaben uns die Hand und stellten uns vor. Ich erwähnte, dass wir das Auto stehen gelassen hatten. Es war ihm offenbar peinlich, und er lachte aus irgendeinem Grund, den er später wahrscheinlich bedauern würde. Aber er wusste, was zu tun war. Berner ging es plötzlich sehr schlecht, sie brauchte Hilfe, um die Eingangsstufen hochzukommen. Ray fragte mich, ob ich hereinkommen wolle. Er sagte, Kaffee gebe es immer. Ich sagte, nein danke. Und dass ich morgen anrufen würde. Als ich mich durch die offene Tür verabschiedete, wo ein großer Fernseher lief – wieder das Spiel –, drehte sich Berner um und lächelte und sagte verträumt: »Also, mein Lieber. Mach’s
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