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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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auch.
    »Bedauerst du, keine Kinder zu haben?« Inzwischen starrte sie den Verkehr auf der Zufahrtsstraße an. Ein großer Bus fuhr vorbei, Richtung Einkaufszentrum, an den Fenstern lauter Frauengesichter, von kurzen Haarschnitten umrahmt. Sie schaltete den Motor ab und die Heizung. Der Geräuschpegel draußen war gedämpft, aber stetig.
    »Nein«, sagte ich. »Daran habe ich nie gedacht. Wahrscheinlich kriege ich genug Kinder zu Gesicht.«
    »Dann endet damit unsere Linie«, sagte sie triumphierend. »Die Parsons-Linie endet hier auf dem Applebee’s-Parkplatz. Fast.«
    »Clare und ich sagen das auch.«
    »Hast du das Gefühl, du hast ein wunderbares Leben gelebt? Jetzt, wo ich dir gesagt habe, wie es mir damit geht? Kannst du ruhig sagen. Es freut mich.« Sie drehte mir ihr Gesicht zu und zeigte einen Augenblick lang keinerlei Anstrengung, nur Erleichterung. So würde ich ihr Gesicht vor mir sehen, für immer.
    »Ich nehme es an«, sagte ich. »Ich nehme alles an. Ich habe die Richtige geheiratet.«
    »Annehmen tun wir es alle. Das ist keine Antwort.« Ihre trockenen Lippen kräuselten sich, und sie betrachtete wieder den vorbeigefahrenen Bus, diesmal missbilligend. »Wir haben doch keine andere Wahl.«
    »Dann ja«, sagte ich. »Ich habe es gelebt.« Dabei war ich mir gar nicht sicher, ob ich das tatsächlich so empfand.
    »Ich bin deine große Schwester.« Sie zog bewusst die Nase hoch. »Du musst mir die ganze Wahrheit sagen. Sonst komme ich zurück und suche dich heim.« Sie lächelte in sich hinein, zog an ihrem Türgriff und setzte wieder dazu an, ihre Füße unter Schmerzen nach draußen zu befördern. »Diesmal schaffe ich es alleine.« An dieser Stelle beendeten wir das Thema und kamen nicht mehr darauf zurück.
    Im Applebee’s saßen wir an einem großen Fenster mit Aussicht auf ihr verrostetes Auto, das noch verdellter war, als ich gedacht hatte, mit einem verbeulten Minnesota-Nummernschild und einer abgerissenen hinteren Stoßstange. Kein anderes Auto auf dem Parkplatz sah so aus.
    Berner wirkte aufgekratzt, als hätte sie sich von unserem ernsten Gespräch erholt und dieser lärmige, fernsehdudelnde, kitschverseuchte Rummel wäre genau das, was es brauchte – um eine Sterbenskranke von ihrem Leiden abzulenken. Sie behielt ihren violetten Mantel an, der mal in die Reinigung gemusst hätte.
    Sie nahm das Kaugummi heraus, wickelte es in die Ecke einer Papierserviette und legte es aufs Fensterbrett. Sie bestellte einen Martini und ermutigte mich, es ihr gleichzutun, obwohl sie ihn wegen ihrer Medikamente gar nicht trinken durfte. Sie sah das Glas nur gern vor sich stehen, wie in den alten Zeiten, jederzeit bereit, seinen kleinen Zauber zu entfalten. Ich bestellte ein Glas Wein, um mich zu entspannen und in die richtige Stimmung zu kommen.
    »Hatte ich schon gesagt«, meinte sie (die Plastiktüte stand neben ihr auf der Bank), »dass ich nicht vorhabe, mich umzubringen? Ich weiß nicht mehr, was ich dir schon erzählt habe. Chemie ist scheiße.«
    »Nein, hast du nicht erwähnt«, sagte ich. »Aber ich hör’s gern.« Ich erhob mein Glas, um ihr zuzuprosten.
    »Ein Selbstmord reicht in einer vierköpfigen Familie«, sagte sie. Damals waren wir erst sechzehn gewesen und nicht in der Lage, viel zu bewegen. Der Ort, wo unsere Mutter ihre letzte Ruhe gefunden hatte, gehörte zu den Dingen, die ich ausgelassen habe. »Ich bin eigentlich nicht sehr auf sie fixiert«, sagte sie und streichelte mit einem Finger, auf dem sich ein kleines blasses Kreuz-Tattoo befand, den Stiel des Glases, während sie die Speisekarte studierte, die alles, was man bestellen konnte, mit grellen Farbfotos zeigte. »Manchmal denke ich an sie und an ihren großen Überfall .« (Sie betonte das Wort.) »Dann muss ich lachen. Und wie wir alle dann einfach so weggeschleudert wurden. Das war das Ereignis unseres Lebens, oder? Ein dicker fetter Griff ins Klo, und alles andere noch obendrauf.« Sie blinzelte hinter ihrer Brille hervor, stützte sich auf ihre Ellbogen und starrte mich an, damit ich genau begriff, wie sie das fand, bald von ihrem Leiden erlöst zu werden. Mir ging es furchtbar ihretwegen, und ich konnte nichts tun, nichts in Ordnung bringen.
    »Du hast nichts davon, wenn du daran denkst«, sagte ich, das war das Mindestmaß an Wahrheit.
    Die jungen Kellnerinnen hatten alle mit rauen Stimmen angefangen, »Happy Birthday« zu singen – für irgendeine ältere Kundin am anderen Ende des Restaurants. Einige Gäste klatschten im
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