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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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hervorschieben, was ich als Nebenwirkung der Tabletten einschätzte. Und jetzt, wo wir uns vom Trailer entfernten, ließ der Südstaatenakzent auch wieder nach. »Er stammt aus West Virginia«, sagte sie. Sie dachte an den Mann, der nicht mit ihr verheiratet war und der sie amüsierte. Ray hieß er. Ein Schatz. Er wusste alles über sie, und es machte ihm wohl nichts aus. Er hatte lange der U.S. Army angehört, war aber jetzt im Ruhestand. Sie hatte ihn in Reno kennengelernt, und er hatte sie vor zehn Jahren in die Twin Cities gebracht; hier lebte ein Bruder von ihm. Der Trailer war das Fast-Hochzeits-Geschenk für sie gewesen. Die Kaninchen züchtete er »für die Küche«, und jedes Mal, wenn er eins »erntete«, musste er weinen. Sie gingen in die Kirche. »Natürlich glaube ich an gar nichts. Ich geh nur mit, um es ihm recht zu machen und nett zu sein. Er weiß, dass ich offiziell Jüdin bin, von Mutters Seite. Aber ich praktiziere ja nicht.«
    Neuerdings interessierte sie sich für China und dessen wachsende Dominanz; sie machte sich Sorgen wegen der illegalen Einwanderer, der Steuern, 9/11, »der Bedrohung«. Sie erinnerte sich an Clares Namen und dass sie Wirtschaftsprüferin war. Sie sagte, sie würde uns so gern besuchen, Windsor sei ja wirklich nicht weit von den Twin Cities entfernt. Sie und Ray, sagte sie, hätten beide für Obama gestimmt. »Warum nicht? Ja? Mal was anderes.« Sie fragte mich, ob ich ihn auch gewählt hätte. Ich sagte, ganz sicher, wenn Kanadier hätten wählen dürfen. Was sie zum Lachen, dann zum Husten brachte: »Klar. Du hast recht. Wohl wahr. Ich hatte vergessen, dass du unser Land hinter dir gelassen hast. Ich kann’s dir nicht verdenken.« Wieder wurde mir klar, dass sie von meinem Leben keine Ahnung hatte und zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr haben wollte. Sie war stetig darum bemüht, für mich an etwas festzuhalten, das eine Rest-Ähnlichkeit mit ihr hatte. Unsere verbliebene Gemeinsamkeit waren unsere Eltern, vor fünfzig Jahren – und wir beide als Bruder und Schwester, woraus wir das Beste zu machen versuchten, zumindest so viel, dass es einen Morgen lang vorhielt. Für die Zeit, die wir im Auto saßen, schien es ihr zu gelingen, nicht krank zu wirken und nicht verbittert darüber, dass mein und ihr Leben so schiefgegangen waren, so unfair verlaufen, vor allem ihres. Sie holte ein altes Ich hervor, betrachtete mich mit ihrer früheren Skepsis und Liebe, wodurch ich mir jung und naiv vorkam, verglichen mit ihrem Alter und ihrer Weisheit. Das gefiel mir. Ich war froh, dass Clare nicht mitgekommen war. Aber so hatte ich mir das nicht ausgemalt. An einen Trailer hatte ich gedacht; aber auch an ein Krankenzimmer mit gedämpftem Licht, einen Fernseher ohne Ton, eine Kommode mit lauter Medikamenten drauf, ein Sauerstoffgerät, Dunst und Duft des Todes allenthalben. Das hier war besser. Unter anderen, nicht so endgültigen Umständen hätte uns nichts daran gelegen, einen Tag zusammen zu verbringen. Dies war die Nachsicht, die der nahe Tod erzeugte.
    »Weißt du …« Wir bogen auf den überfüllten Parkplatz vom Applebee’s ein, samstägliche Einkäufer bestiegen oder verließen große SUVs, dazu überall Motorräder und Pickups. »… ich sage mir immer: ›Behalte das hier in Erinnerung. In einem halben Jahr kann alles schon ganz anders sein.‹«
    »Da unterscheide ich mich nicht sehr von dir«, sagte ich. »Wir sind schließlich immer noch im selben Alter.«
    »Aber du weißt nicht, wie oft sich das schon bewahrheitet hat. In meinem Leben? Ein halbes Jahr war da sozusagen schon ein ganzes Leben.« Sie musterte mich kalt, während ihre Kiefermuskeln unter der gelben Haut arbeiteten und die Zunge ruhelos im Mund herumfuhr.
    »Doch, das weiß ich.«
    »Tja«, meinte sie und seufzte wieder resigniert. Wenn sie früher seufzte, dann immer voller Ungeduld. »Ich versuche mit aller Kraft, diesem allmählichen Sterben etwas entgegenzusetzen. Vielleicht sieht es nicht danach aus. Ist aber so. Ich fühle mich, als ob …« Sie starrte die Schlüssel in der Zündung an, streckte einen Finger aus und ließ sie sinnlos klimpern. »Manchmal fühle ich mich, als ob mein eigentliches Leben noch gar nicht angefangen hätte. Das Leben bisher war nicht gerade zufriedenstellend, könnte man sagen. Was aber nichts mit dir zu tun hat. Ich bin unsere Straße in dem Sommer damals ganz alleine entlanggegangen. Weißt du noch?«
    »O ja«, sagte ich. »Ich seh’s vor mir.« So war es
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