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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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herum, es war Samstagmorgen. Anderthalb Kilometer nördlich von uns erhoben sich gigantische silberne Düsenflieger in den Herbsthimmel. Ihre Maschinen machten kaum Geräusche, während sie davonzogen.
    Berner bog in eine gepflasterte Auffahrt ein. Ein kleiner Mann stand an einem Ende des Trailers und fütterte Salatblätter in einen erhöhten Drahtkäfig, in dem sich mehrere dicke graue und weiße Kaninchen zu der kleinen Öffnung hin drängelten.
    »Da steht der geduldigste weiße Mann auf der ganzen Welt und der Weltmeister im Scrabble. Er versorgt seine Herde.« Sie öffnete ihre Wagentür und hatte Schwierigkeiten, ihre Beine unter dem Steuerrad hervorzuziehen. »Schieb mich bitte mal kurz an, Schatz.« Auf Berners Gesicht lagen Schmerz und Anstrengung. »Kriegst mich schwer wieder in Gang, wenn ich erst mal gestoppt habe. Ich brauch aber nicht lang.« Sie war in einen leichten Südstaatenakzent verfallen, seit wir uns ihrem Haus genähert hatten. »Wir sind nicht verheiratet«, sagte sie ins Auto hinein. »Aber er ist der beste Ehemann, den ich je hatte. Ein guter musste doch dabei sein, stimmt’s? Er ist schüchtern.« Sie richtete sich steif auf und sah zu dem Mann hin, der gerade die Käfigtür einhakte. Er trug Cowboystiefel und Jeans und eine Windjacke aus Nylon und die Art hellroter Mütze, die auch meine Schüler mochten, aber er hatte sie nicht schief auf dem Kopf. »Ich hab was vergessen«, rief sie ihm zu. Er sah sie an und sagte nichts. »Meine Dosis«, sagte sie und machte sich unter Mühen auf den Weg zu den Eingangsstufen, um ihre Arznei zu holen.
    Im eisigen Sonnenschein sah ich, dass viele der anderen Trailer, die alle quer zur Straße standen, amerikanische Fahnen an Aluminiummasten im Vorgarten stehen hatten – als hätte irgendwer jedem eine verkauft. Bei Berner fehlte sie. Auf einigen der Rasenflächen standen Pappschilder, die verkündeten, woran die Bewohner glaubten. ABTREIBUNG IST MORD. DIE EHE IST EIN SAKRAMENT. KEINE STEUERN. In Kanada griff das auch um sich – und es kam von der Regierung: der nervöse amerikanische Drang nach etwas anderem. Die unvermeidliche Nordwärtsdrift von allem.
    Der kleine Mann mit der roten Mütze und den Stiefeln trat an einen zweiten Kaninchenkäfig und verfütterte weiter Salat aus einer Metallschüssel, die zu seinen Füßen stand. Auf den Rücken seiner Windjacke war eine Südstaatenflagge gestickt, darunter eine Schrift, die ich nicht entziffern konnte. Er war verschrumpelt und zäh und eckig und vertrocknet – deutlich älter als Berner. Ein religiöser Mensch, schon lange erweckt, stellte ich mir vor, während ich ihn durch die sonnengleißende Windschutzscheibe beobachtete. Irgendwo stand bestimmt ein Motorrad. Ein Riesenfernseher. Eine Bibel. Alle hatten schon vor Jahren mit dem Trinken aufgehört und warteten jetzt. Das ist aus ihnen geworden, dachte ich. So zu enden, hier. Ich hatte mir angewöhnt, meinen eigenen Lebensweg als richtig zu verteidigen, als könnte jeder etwas daraus lernen. So bewundernswert war der aber gar nicht. Am allerwenigsten konnte meine Schwester daraus lernen, die ihr Leben selbst in die Hand genommen und akzeptiert hatte. Mir wurde klar, dass ich nicht wusste, wie ich sie nennen sollte.
    Der kleine Mann schloss den zweiten Käfig und hakte die Tür sorgfältig zu. Er bückte sich, hob die silberne Schüssel auf und schaute dabei zum Auto herüber. Dann stand er auf und starrte direkt auf die spiegelnde Windschutzscheibe. Vielleicht war ich auf dem Sitz sichtbar, auf Berner wartend – auf Bev wartend. Er hob die Schüssel zum Gruß und lächelte freundlich, was ich nicht erwartet hatte. Dann drehte er sich um und schritt steif und würdig zur Ecke des Trailers. Dann war er weg. Mein erwidertes Winken sah er nicht. Er wollte mich nicht kennenlernen. Ich verstand das absolut. Ich war spät auf der Bildfläche erschienen.
    Im Auto, unterwegs zum Applebee’s, schien es Berner besser zu gehen. Sie hatte Makeup nachgelegt, verströmte einen Kirschgeruch und kaute Kaugummi. Mitgebracht hatte sie eine Einkaufstüte aus Plastik von Cub Foods, in der – so nahm ich an – steckte, was immer sie mir geben wollte.
    Sie schaltete die Heizung ein und teilte mir mit, sie friere die ganze Zeit, ihr werde ums Verrecken nicht warm. Sie kratzte an dem Klebeband, das den Shunt auf ihrer Hand fixierte, und schüttelte den Kopf, als ich es bemerkte. Es sah so aus, als wollte sie am liebsten ihre breite Zunge zwischen den Lippen
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