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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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immer noch ziemlich oft. Kanadier und Amerikaner sind andererseits so ähnlich, dass es wahrscheinlich nicht fair ist, auf diesem Unterschied zu beharren.
    Ich hatte immer das Gefühl gehabt, ich müsste meine Schwester öfter sehen, und wer mich danach gefragt hätte, wäre mit der Antwort, dass ich eben diese Art Bruder war, bedacht worden. Es war nur einfach nicht passiert. Ihr Leben nahm eine andere Entwicklung als meines. Ich hatte eine Frau, war Highschool-Lehrer und habe mein ganzes Arbeitsleben lang Schachclubs gesponsert. Berner hatte mindestens drei Ehemänner hinter sich und fühlte sich leider nur an den Rändern des konventionellen Lebens wohl. Das meiste davon verlor ich aus den Augen. Sie war Hippie, bis das ausgereizt war. Dann Ehefrau eines Polizisten, der sie schlecht behandelte. Dann eine gescheiterte späte Studentin. Dann Kellnerin in einem Kasino. Dann Kellnerin in einem Restaurant. Dann Hilfsschwester in einem Hospiz. Ein anderer Ehemann war Motorradmechaniker in Grass Valley, Kalifornien. Keine Kinder im Spiel. Und es gab noch mehr, was ihr Leben nicht gut aussehen ließ, obwohl sie das nie sagte.
    Als wir sie in Reno besuchten, war sie mit einem Mann namens Wynne Reuther zusammen, der sagte, er wäre mit dem Gewerkschaftler Walter Reuther verwandt. Sie waren beide betrunken. Wir aßen in einem »Ratskeller«, der zu einem Kasino gehörte. Berner, deren sommersprossige Haut aufgedunsen und deren flaches Gesicht aufgewühlt war, hatte sich ein höhnisches, scharrendes Lachen angewöhnt, bei dem sie zu viel Zunge zeigte. Ihre engstehenden, grau-grünen Augen waren falkenscharf und kalt. Sie behandelte meine Frau ironisch und schien entweder nicht mehr zu wissen oder nicht wahrzunehmen, dass wir Kanadier waren. Sie hatte ihre Schrägheit nicht verloren, die mich von jeher faszinierte – ihre »Blasiertheit«, wie mein Vater es genannt hatte. Als Kinder waren wir immer die beiden Seiten einer Münze. Aber jetzt beim Abendessen, während sie lautstark über diesen Burschen Reuther redete, kam sie mir vor wie ein x-beliebiger Mensch, trotz der Manierismen und Handbewegungen und einem gelegentlichen, gespenstischen Ausdruck auf ihren Zügen, die ich alle wiedererkannte. Irgendwann sagte sie, ich – nicht Clare – würde so kanadisch reden. Was mich nicht störte. Dann nannte sie Kanada »unscheinbar«, was Clare ärgerte. Und schließlich sagte sie zu mir, ich hätte mein Land sich selber überlassen. Danach hatte ich einen verrutschten Streit mit Wynne Reuther – irgendetwas über den Iran –, der den Abend vorzeitig beendete. Berners letzte Worte zu mir, als wir auf dem dunklen, brütendheißen Wüstenparkplatz standen – bei der Interstate 80, deren volle Ladung Trucks über uns im Licht der orangefarbenen Natriumlaternen und dem hellen Widerschein der Kasinos hinwegdonnerte –, lauteten: »Du hast auf eine Menge verzichtet. Ich hoffe nur, du weißt das.« Sie hatte keine Ahnung, was sie da redete. Sie war angetrunken und verbittert über ihr »Ersatzleben«. Natürlich hatte sie recht. Ich hatte wirklich auf eine Menge verzichtet, Mildred klang mir noch in den Ohren. Nur war ich zufrieden darüber und über das, was ich dafür bekommen hatte. »Es ist so merkwürdig, was die Menschen voneinander unterscheidet«, sagte Clare fast launig, als wir im Auto saßen und das Ganze hinter uns hatten. »Die Natur erschafft ihre Kinder nie im Gleichklang«, sagte ich, voller Freude, mich an den Satz Emersons nicht nur zu erinnern, sondern auch den perfekten Moment dafür gefunden zu haben. An jenem Abend fühlte ich mich allerdings eher labil und unvollständig, ich war traurig. Ich hielt es für möglich, dass ich Berner nie wiedersehen würde.
    Wir verabredeten uns im Comfort Inn, nicht weit vom riesigen Einkaufszentrum beim Flughafen der Twin Cities. Am Telefon hatten wir eine höfliche Meinungsverschiedenheit gehabt, wer nun zu wem kommen müsse, und sobald das geklärt war, ob ich mit einem Mietwagen zu ihr nach Hause fahren oder sie mich abholen solle.
    »Ich muss nach Hause können, wenn ich müde werde«, war ihre telefonische Ansage nach Windsor, mit verbrauchter, aber zuversichtlicher Stimme – als könnte ich sie nicht heimfahren, wenn es so weit war. Sie hatte einen kleinen, rauen Husten und klang heiser. »Dienstags kriege ich immer meine Chemo«, sagte sie, »da bin ich schnell alle.«
    »Ist Dad bei dir?«, fragte ich. »Bev Parsons« stand in mein Hirn gemeißelt. Ich wollte ihn
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