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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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nicht sehen. Aber wenn er lebte und sich um sie kümmerte, konnte ich das wohl kaum verweigern.
    »Dad?« Berner klang ungläubig. »Unser Dad?«
    »Bev Parsons«, sagte ich.
    »Oh, um Himmels willen«, sagte sie. »Das hab ich vergessen. Nein. Ich habe irgendwann endlich beschlossen, meinen alten grässlichen Namen abzulegen. Berner.« Sie sagte es reumütig. »So viele Jahre war ich das. Klebte wie Pech. Sein Name steht mir besser. Ich hab ihn immer darum beneidet. Und so konnte ich auch mein Gepäck mit den Initialen behalten – wenn ich welches gehabt hätte.«
    »Mir hat dein Name immer gefallen«, sagte ich. »Ich fand, er … stach heraus.«
    »Gut. Dann nimm du ihn ruhig. Er ist nicht besetzt. Ich werde ihn dir vermachen.« Sie lachte wieder.
    »Wie krank bist du?« Plötzlich, es lag wohl am Telefon und daran, dass wir uns nicht sehen konnten, waren wir zwei Erwachsene, die sich solche Fragen stellen mussten. Zwillinge einer anderen, besseren Art.
    »Oha«, sagte sie. »Ich mache die Chemo nur, um überhaupt was zu tun. Ich hab noch zwei Monate, höchstens. Ein Lymphom, das man keinem wünscht. Ehrlich.« Sie atmete hörbar. Ein Seufzen. Sie hatte immer geseufzt, allerdings nie resigniert.
    »Das tut mir leid«, sagte ich. Und schon waren wir wieder fast Fremde. Natürlich meinte ich es ernst.
    »Tja, mir auch«, sagte sie und klang gutgelaunt. »Das Einzige, was weh tut, ist das Heilmittel. Und das Heilmittel heilt noch nicht mal. Du solltest also lieber herkommen. Ja? Ich will dich sehen. Und dir etwas geben.«
    »Ja«, sagte ich. »Ich komme nächstes Wochenende.«
    »Bist du immer noch der Herr Lehrer?«
    »Bis Juni noch«, sagte ich. »Dann gehe ich in Rente.«
    »Dann verpasse ich wohl deine Abschlussfeier«, lachte sie, mit dem harschen, spöttischen Lachen, das ich vom letzten Mal noch im Ohr hatte, als sie zu mir sagte, ich hätte auf eine Menge verzichtet.
    »Sie will nur sehen, ob du wirklich kommst.« Clare schüttelte entschieden den Kopf. Sie half mir dabei, eine kleine Reisetasche zu packen. Ich wollte nur einen Tag und eine Nacht dort verbringen. »Und du kommst natürlich.«
    »Wenn deine Schwester sterbenskrank wäre, würdest du das auch tun.« Unser Haus in der Monmouth Street steht neben einem kleinen Park und hat davor und auf der Seite je eine spärliche Ulme. Beide zeigten sich in spektakulärem Gold. Es war Oktober, die Jahreszeit, für die man in unseren Breiten lebt.
    »Das würde ich«, sagte sie, gab mir ein Küsschen und klopfte mir auf die Schulter. »Ich liebe dich«, fügte sie hinzu. »Was immer sie will, gib es ihr.«
    »Sie will nur, dass ich komme«, sagte ich, »sonst nichts. Sie will mir etwas geben.«
    »Mal sehen«, meinte Clare. Meine Frau ist staatlich anerkannte Wirtschaftsprüferin und neigt dazu, die Welt jenseits ihres engen Kreises von Vertrauten und der näheren Familie als eine engagierte Verhandlung zu betrachten, Pro versus Contra, Gewinn versus Verlust, Geben versus Nehmen – allerdings nicht Böse versus Gut. Diese Ansichten haben sie nicht zynisch werden lassen – nur skeptisch. Sie hat ein großes Herz. »Was immer dir bevorsteht, du wirst es bekommen«, sagte sie. »Bring ihr meine besten Wünsche – falls sie sich an mich erinnert.«
    »Ganz sicher«, sagte ich. »Sie wird sich freuen. Ich sag’s ihr.«
    Es war kalt in Minneapolis, einer Stadt, die ich immer aus der Ferne gemocht hatte, für ihren wohldimensionierten, polierten und zähen Optimismus. Ab und zu navigierten wir uns auf dem Weg zu Clares Mutter in Portage la Prairie dort durch, bis hin zur Fähre über den See, Richtung Wisconsin.
    Ich stand im Wintermantel vor dem Comfort Inn und sah zu einem Schwarm südwärts ziehender Enten empor, als Berner in einem verbeulten blauen Ford Probe vorfuhr, der lauter abblätternde Rostplacken um die Radkästen, die Motorhaube und das Dach hatte. Sie ließ ihre Scheibe herunter. »Hey, Großer. Zeit für einen Quickie? Mehr als einen Quickie hab ich nicht zu bieten.« Sie sah fürchterlich aus. Ihr Gesicht, das mich durchs Fenster anlächelte, war senfgelb. Das Aufgedunsene von vor dreißig Jahren war weg, ebenso der mädchenhafte Flaum auf den Kiefern. Ihre Augen hinter einer übergroßen roten Brille, wie sie ältere Frauen tragen, um jünger auszusehen, wirkten ausgebrannt. Sie war dünn – fast so dünn wie in unserer Jugend. Sie sah aus wie eine alte Frau, deren Zähne zu groß für ihren Mund waren. Ihr flaches Gesicht schien weniger
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