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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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gut. Es war schön, dich wiederzusehen. Und viele Grüße, ja?«
    »Mach ich«, sagte ich. »Ich hab dich lieb. Mach dir keine Sorgen.« Der unzufriedene Gesichtsausdruck, den meine Mutter bei ihr befürchtet hatte, lag nicht auf ihren Zügen.
    Ich fuhr mit dem Taxi, das gewartet hatte, zurück ins Hotel. Und am nächsten Morgen flog ich wieder nach Detroit.
    Viel mehr ist nicht zu erzählen. Das befriedigt mich irgendwie. Ich bin mit einem guten Gedächtnis gesegnet, so wie meine Schwester Berner zufällig mit einem weniger guten gesegnet war. Aber sie hatte recht: Das war damals wirklich das Ereignis in unserem Leben, denn es fing in unserer Familie an, und seine Folgen reichten weit, wenn auch nie über die Familie hinaus. In der Woche nach Berners Tod, die auch die Woche nach dem amerikanischen Thanksgiving 2010 war, letztes Jahr, sagte ich zu meinen Schülern – ganz unerwartet: »Hattet ihr je das seltsame Gefühl, ihr wärt irgendwie einer Bestrafung entgangen?« Wir redeten gerade mal wieder über Hardy. Über den Bürgermeister . Sie starrten mich nur an, verblüfft, da sie erkannten, dass ich abgelenkt war und von mir selbst sprach. Mir wurde sofort klar, wie beunruhigend das in ihren Ohren geklungen haben musste. Obwohl ein Junge, dessen Familie aus dem Kosovo stammt, antwortete, ja, das kenne er.
    Ich sah meine Schwester nicht als Tote. Ray rief mich zwar am selben Tag höflich an und nannte mich »Dell« und Berner »Bev«. Er sagte, sie hätten vor einer Woche geheiratet. Ich antwortete, das sei wunderschön, und dankte ihm. Dass die Feier ohne mich stattgefunden hatte, war nicht schlimm, denn ich glaube, bei dem Besuch war ich wahrhaftig zu ihr gewesen, nicht täuscherisch, und das hat sie wohl auch so gesehen. Allerdings hatte ich an den Tagen nach ihrem Tod das eigenartige Gefühl – vollkommen neu für mich –, dass unser Vater noch immer irgendwo lebte, trotz seines hohen Alters, und vielleicht gern von ihr gehört hätte und sogar von mir. Ich versuchte diesen Gedanken zu verdrängen, und es gelang mir auch bald. Es war nur eine Fantasie, weil ich ein weiteres Mal allein zurückblieb. Wobei ich jetzt manchmal Berners Traum träume, den, von dem sie mir vor fünfzig Jahren aus San Francisco schrieb: dass ich jemanden umgebracht und das dann vergessen hätte; dass das Verbrechen schließlich wie ein Schreckgespenst ans Tageslicht gekommen und jedem, den ich kannte, offenbart worden wäre. Meinen Schülern. Meinen Kollegen. Meiner Frau. Und alle wären entsetzt und würden mich deswegen verabscheuen.
    Nur dass ich niemanden umgebracht hatte – weder in meinem Traum noch außerhalb (ich habe nur geholfen, die beiden Amerikaner zu begraben, und dafür muss ich irgendwann noch bezahlen).
    Die Chronik unserer Mutter war ungefähr so, wie Berner gesagt hatte: Stückwerk, unvollständige Gedanken, bestimmt für einen späteren Zeitpunkt, der nie kam, ihre Sicht des Raubüberfalls, Meinungen, Rechtfertigungen, Banalitäten, schroffe Worte über unseren Vater. Daraus könnte jemand eine ganze Geschichte machen. Wie sagt Ruskin: Komposition ist das Arrangieren ungleicher Dinge. Der Inhalt ihrer Chronik läuft absolut unter »ungleiche Dinge«. Doch in meinem Alter interessiert mich so eine Aufgabe nicht mehr, schließlich handelt es sich auch in anderer Hinsicht um ungleiche Dinge, ungleich nämlich dem Stoff meines eigenen verbleibenden Lebens – sosehr ich das bedauere.
    Es gab allerdings eine Passage in den Aufzeichnungen meiner Mutter, von der Berner sich wahrscheinlich am meisten gewünscht hatte, dass ich sie läse – und weswegen sie mir diese Seiten überhaupt gegeben hatte.
    »Ich glaube«, schrieb unsere Mutter in ihrer zarten Handschrift, mit der blauen Tinte, die sie wohl im Gefängnis bekommen hatte und die an einigen Stellen nicht mehr lesbar war, »wenn man stirbt, dann will man es wahrscheinlich auch. Man kämpft nicht dagegen an. Es ist wie Träumen. Es ist gut. Stellt ihr euch das nicht auch so vor, dass es sich gut anfühlt? Einfach aufzugeben? Schluss mit dem ewigen Kämpfen, Kämpfen, Kämpfen. Irgendwann werde ich mir deshalb Sorgen machen und es bedauern. Aber jetzt im Augenblick geht es mir gut. Eine Last fällt von mir ab. Eine Riesenlast. Wie sich herausstellt, fürchtet die Natur die Leere keineswegs.«
    Dies war auf den Frühling 1961 datiert. Berner hatte mit Bleistift ein Häkchen daneben gemacht. Die Stelle bedeutete ihr etwas. Wahrscheinlich wird sie auch mir eines Tages
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