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Kammerflimmern

Kammerflimmern

Titel: Kammerflimmern
Autoren: Even Anne; Holt Holt
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ihre Kräfte im Stich, dachte sie bisweilen, auch wenn sie versuchte, die von Gelenkrheumatismus geplagten Hände zu übersehen. Ihre Arme waren so dünn, dass ihre Hände Adlerklauen glichen. Wenn sie duschen wollte, zog sie sich erst aus, nachdem sie sorgfältig den Spiegel mit einem Badetuch verhängt hatte. Ihr Gesicht zeigte noch Spuren von der, die sie einst gewesen war, und ein seltenes Mal, vielleicht wenn ihr Sohn unterwegs zu ihr war, trug sie auch Make-up auf. Aber ihr Körper gehörte ihr nicht mehr. Sie verhängte den Spiegel.
    Lage und Größe der Wohnung, die hohen Fenster, die ehemals so teuren Möbel und die Bilder an den Wänden hätten von einer ganz anderen Zeit berichten können, wenn jemand zugehört hätte. Da aber niemand zu Besuch kam, außer einige Male im Jahr ihr Sohn und der Bote von Samson’s Fast Food & Liquor, der jedoch nie über die Schwelle trat, war die früher so prachtvolle Wohnung im 32. Stock nur eine stumme Hülle um die vierundsechzig Jahre alte Frau, die aussah wie eine Greisin.
    Diese Nacht war schlimmer gewesen als die meisten anderen.
    Rebecca starrte die Flasche Absolut Vodka an und konnte nicht recht begreifen, warum die nur noch so wenig enthielt. Resigniert leerte sie den Rest in das hohe Glas, verzichtete auf Wasser und trank.
    Normalerweise füllte sie sich mit viel billigerem amerikanischen Wodka ab. Diese Flasche aus Skandinavien schmeckte nach Johannisbeeren und war ein Geschenk des einzigen Menschen, der ihr geblieben war. Ein Geschenk, das sie überrascht hatte, denn er fand ihre Trinkerei schrecklich. Sie hatte die Flasche ganz hinten in dem riesigen Schrank im größten Zimmer versteckt, in der Hoffnung, sie zu vergessen. Jetzt konnte sie sich nicht erinnern, warum sie gegen ihr selbst auferlegtes Versprechen verstoßen hatte.
    Ein nachtschwarzer Mairegen zeichnete Streifen auf die Fensterscheiben. Wenn der Regen irgendwann aufhörte, würde es noch schwieriger sein, die Details der prachtvollen Aussicht zu unterscheiden, über die sie sich einst so gefreut hatte. Der Wechsel von Regen und Schmutz, Regen und Staub, Regen und Abgasen, von der Sonne zu einer harten Kruste auf dem Glas gebrannt, hatte die Fenster mit den Jahren in Zauberspiegel verwandelt. Noch immer konnte sie natürlich die Stadt dort draußen ahnen, diese riesige Stadt, in der sie einst zu Hause gewesen war, aber wenn sie bei den widerspenstigen Vorhängen stand, sah sie vor allem ihr groteskes Spiegelbild.
    Obwohl Rebecca ihre Wohnung noch immer aufräumen konnte, abgesehen von den überquellenden Aschenbechern in der Küche, im Schlafzimmer und im kleinsten Wohnzimmer, machten Steifheit und Schmerzen wirkliches Reinemachen seit Langem unmöglich.
    Der Putzfrau war schon längst gekündigt worden.
    Rebeccas Hände zitterten, als sie sich eine Zigarette anzündete.
    Sie zitterten nicht nur, sie schüttelten sich und tanzten herum, als ob sie mit Parkinson zu kämpfen hätte. Vielleicht hatte sie sich diese Krankheit ja auch zugezogen, sie hatte seit über drei Jahren keinen Arzt mehr aufgesucht. Früher hatte sie ihre eigenen präzisen Diagnosen gestellt. Sie war eine Diagnostikerin von Rang und Stand gewesen.
    Jetzt tippte sie nur auf Unterernährung und Schrumpfleber neben dem unbestreitbaren Gelenkrheumatismus.
    Der Fernseher flimmerte an der gegenüberliegenden Wand.
    Ihr Sohn hatte ihn bei seinem letzten Besuch mitgebracht. Ein 42-Zoll-HD-Flachbildschirm. Er war so umsichtig, ihr Orty, und der Einzige, der sie davon abhalten konnte, so viel, so schnell und so pausenlos zu trinken, dass es ihr Tod sein würde. Trotz des vernebelten Gehirns konnte sie noch immer berechnen, wie viel dazu nötig wäre. Sie tat es nicht, denn sie hatte ihn, den lieben Jungen, den guten Sohn, der so weit weg wohnte, der aber jede Woche anrief, zum selben Zeitpunkt, das einzige Licht in dem, was von Rebeccas Leben übrig war. Er hatte einen riesigen Fernseher mitgebracht, und das war lieb gemeint gewesen.
    Sie konnte nur nicht begreifen, was sie damit sollte.
    Sie schaltete den Apparat niemals aus, aber sie schaute nicht hin. Meistens las sie, griff aufs Geratewohl ein Buch aus den Regalen und ließ die Augen über die Seiten laufen, um die Zeit zu vertreiben. Der Fernseher stand einfach nur da und erinnerte sie an alles, was sie nicht mehr hatte.
    Das Leben, zum Beispiel.
9.53 Uhr
Universitätskrankenhaus Grini, Bærum
     
    Als Lars Kvamme im Zickzack zwischen den Autos über den überfüllten Parkplatz
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