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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels
Autoren: Stefan Koenig
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musste man sich genau aus diesem Grund in Acht nehmen.
    Bisweilen verursachten Kletterer den Steinschlag, traten bei ihrem Aufstieg Steine los oder lösten Geröll mit dem Seil, das um Ecken und Kanten führte. Meistens freilich gab es keine anderen Gründe als die, dass sich die Berge seit ihrer Entstehung in einem fortschreitenden Verfallszustand befanden, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte, dass sie längst altersschwach waren. Sie zerbröckelten und zerbröselten. Eigentlich war das mit bloßen Augen zu sehen. Doch wer hätte es wahrhaben wollen …
    Dieser Verfall war die Hauptursache dafür, dass einem Bergsteiger auch auf vermeintlich unschwierigen Wegen bisweilen Steine wie Geschosse um die Ohren pfiffen.
    Wenn auch noch jung an Jahren, so hatte Mannhardt doch schon gelernt, die Geräusche der fallenden Steine zu unterscheiden in gefährlich und ungefährlich. Er hatte gehört, gelesen und für sich herausgefunden, wann er das Poltern gar nicht weiter zu beachten brauchte, wann es für ihn ohne Risiko war. Aber er hatte es auch schon erlebt, dass Steine schrill pfeifend aus einer Wand zu Tal schossen und gar nicht weit von ihm einschlugen. Wenn er dieses Pfeifen hörte, schaute Mannhardt nicht mehr nach oben. Dann ging er in die Hocke, machte sich klein und riss den Rucksack über Nacken und Kopf. Und dann wartete er, bis alles vorbei war, und bisher war immer alles vorbeigegangen, ohne dass er Schaden genommen hatte. Die Steine hatten ihn immer verschont.
    Im Weitersteigen bemerkte Mannhardt, wie sich das Wetter veränderte, von Viertelstunde zu Viertelstunde. Der Himmel, anfangs noch von trübem Blau, zeigte sich jetzt in tiefem Azur. Dafür verloren die Felsflanken etwas von ihrer Klarheit. Hatte er bei seiner Ankunft im Leutaschtal noch geglaubt, geradezu jeden Griff, jeden Tritt im Fels der gewaltigen Wände wahrnehmen zu können, so wurden die Konturen jetzt etwas schwächer. Gleichwohl waren die Berge, die seinen Anstiegsweg flankierten, auch in diesem Licht eindrucksvoll und schön.
    Rechter Hand reihte sich die breite Wettersteinwand an die Wettersteinspitze, dann kam der Musterstein mit seiner Südwand. Und hinterm Musterstein musste sich irgendwo die Meilerhütte befinden.
    Immer wieder schaute Mannhardt hinauf zu dem langen Gratverlauf von der Wettersteinspitze zum Musterstein. Wenn das Wetter in den nächsten Tagen passen würde …
    Er hatte sich vor seiner Abreise mit diesem Grat gar nicht befasst. Zwar hatte er vor Längerem im Wetterstein-Führer des geradezu legendären Helmut Pfanzelt gelesen, dass die Anforderungen zwischen dem ersten und dritten Schwierigkeitsgrad lagen, also auch für einen versierten Alleingänger beherrschbar waren. Aber der Grat war dennoch nicht sein Ziel gewesen. Das Seil hatte er dabei, weil er eigentlich vorgehabt hatte, von der Meilerhütte ins Oberreintal abzusteigen und dort an einem der Felstürme eine leichte Kletterei zu wagen. Für einen nicht allzu schwierigen Aufstieg hätte es nicht unbedingt des Seiles bedurft – aber fürs Abseilen, um wieder herunterzukommen von einem solchen Berg.
    Er beschloss, am Nachmittag auf der Hütte den »Pfanzelt« zu studieren und sich eingehend vertraut zu machen mit dem langen Gratweg, der geradezu einladend im Licht des Vormittags leuchtete. Mit jedem Meter, den er aufstieg, wurde dieser Grat mehr zur Herausforderung für ihn.
    Das Seil kann ich da auch gut gebrauchen, dachte er. Gewiss gibt es Stellen, die man besser abseilt als abklettert.
    Zur Linken hin wurde das Berglental – welch niedlicher Name für diese hochalpine Wildnis, dachte er – von schattigen Nordflanken begrenzt. Vor allem der fast zweieinhalbtausend Meter hohe Öfelekopf entsandte Kanten und Kare ins Berglental, ein Gewirr von Fels und Geröll. Durchaus nicht uninteressant – aber nichts im Vergleich zu Mannhardts Grat.
    Mein Grat, dachte er. Das wird mein Grat. Ich gehe nicht weiter hinein ins Gebirge, sondern nehme von der Meilerhütte aus den Grat in Angriff.
    Morgen noch nicht. Morgen ausschlafen, dann auf die Partenkirchener Dreitorspitze und wieder zurück zur Hütte. Am späten Nachmittag dann noch die erste Dreiviertelstunde vom Gratweg erkunden. Denn er würde am darauffolgenden Morgen früh aufbrechen müssen, das war ihm klar beim Blick hinauf zu den Gipfeln. Ganz früh. Wahrscheinlich noch in der Dunkelheit.
    Er träumte. Träumte bei jedem Schritt. Sah sich bereits am Grat. Sah das weiße Kalkgestein hell leuchten. Sah sich gehen
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