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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels
Autoren: Stefan Koenig
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Schritte, die Atemzüge und, ohne dass er sich das bewusst gemacht hatte, die Herzschläge.
    Der Herzschlag, in Gelatine eingelegt. Dazu das Rauschen in ihm. War es das Rauschen seiner Seele, das sich anhörte wie Wind, der als Vorbote eines großen Unwetters durch bergigen Mischwald streicht?
    So lag er, ohne zu wissen, wie lange. Er wusste ja nicht einmal mehr, wer er war, wie er hieß, woher er kam. Deshalb wohl gingen ihm in der letzten halben Stunde seines kurzen Lebens auch keine Bilder mehr durch den Kopf, keine Erinnerungen. Wo es doch so oft hieß, dass einem Sterbenden das Leben noch einmal wie ein Film ablaufe.
    Irgendwann klarte sich die Gelatine auf, die Trübnis ihrer Beschaffenheit wich. Mit einem Auge konnte er aus seinem weichen Gefängnis hinaussehen, konnte noch einmal einen Blick tun auf das, was noch übrig war von seinem Leben. Was er sah, war rätselhaft. Er sah eines seiner Beine nur zwei Handbreit von seinem Kopf entfernt. Er sah den Fuß, der in sonderbarem Winkel von diesem Bein abstand. Und er sah, dass dieses Bein zuckte.
    Nein, es war keine Täuschung.
    Es war sein Bein, das zuckte. Dieses Zucken und sein unrhythmischer Herzschlag waren alles, was ihm noch geblieben war.
    Das Bein zuckte.
    Sein Herz schlug, schlug, schlug …
    Es setzte aus … und schlug wieder … und setzte wieder aus. Sein Bein zuckte. Zuckte direkt vor seinem Gesicht. Er konnte es sehen.
    Ihn würgte. Gallenbittere Flüssigkeit füllte seine Mundhöhle und lief heraus und breitete sich rund um Mund und Nase auf dem steinigen Boden aus.
    Das Bein gehörte nicht mehr zu ihm. War nicht umhüllt von Gelatine. Lag draußen. Und es zuckte. In langen, unregelmäßigen Abständen.
    Es bereitete ihm Übelkeit. Er versuchte, das Auge zu schließen, aber er sah das Zucken durch das Lid hindurch. Es war in ihm.
    Wieder würgte sein geschundener Körper Galle hoch. Dabei verrutschte sein Kopf um ein paar Zentimeter. Davon merkte er nichts. Er merkte nur, dass sein Bein aus dem Blickfeld verschwand. Nicht ganz, aber immerhin. Aus dem Augenwinkel nahm er das Zucken weiterhin wahr.
    Doch konnte er jetzt auch Himmel sehen und Berge. Gipfel, die weiß leuchteten. Verbunden durch einen langen Grat aus hellem Fels. Und darüber das Blau, ein tiefes und schönes Blau.
    Sein Bein zuckte. Sein Herz schlug und setzte aus. Er sah die Berge und den Himmel.
    Dann setzte das Herz erneut aus. Und es begann nicht mehr zu schlagen. Nur das Bein zuckte noch drei- oder viermal.
    Aber da war Karl Mannhardt bereits endgültig durchs Tor gegangen.

1
     
    »Ich bin ja gespannt, ob die alte Kiste das aushält«, sagte Pablo. »Es sind immerhin neunhundert Kilometer. Einfach! Und wie viel sind wir schon gefahren?«
    »Vierzig«, sagte Marielle. »Ungefähr.«
    Sie waren auf der Alten Brennerstraße von Innsbruck zum Pass hinaufgefahren und kurvten nun hinunter nach Sterzing. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag. Auf der Landstraße war nicht allzu viel los, und das Wetter war grau und regnerisch.
    »Machst du dir Sorgen?«, fragte sie. »Das Auto hat doch schon manches Abenteuer mitgemacht. Warum nicht auch dieses?«
    Pablo, der am Steuer saß, schaute kurz zu ihr hinüber. Schön sah sie aus. Er war froh, sie zur Freundin zu haben.
    »Wahrscheinlich hast du ja recht. Die Kiste ist nicht totzukriegen. Wird schon gut gehen …«
    Bei Sterzing fuhren sie auf die Autobahn, lösten die Mautkarte und hielten sich fortan vorschriftsgemäß an die Höchstgeschwindigkeit von hundertzehn Stundenkilometern – was kein Problem war, denn viel schneller wäre der vollgepackte Astra, den Pablo vor zwei Jahren für elfhundert Euro und drei Kasten Fohrenburger einem Mitstudenten abgekauft hatte, ohnehin nicht mehr gefahren.
    Zwischen Franzensfeste und Brixen, dort, wo das Eisacktal breiter und offener wurde, erhaschten sie einen kurzen Blick auf die Spitzen der Geislergruppe.
    »Schau!«, sagte Pablo. »Die Dolomiten.« Selbst im grauen Licht des ausklingenden Wintertages sahen die schneeverkrusteten Felsgipfel eindrucksvoll aus. Für Bergsteiger und Kletterer wie Pablo und Marielle ein geradezu berauschender Anblick. Eine Verheißung großer alpiner Abenteuer und im besten Fall auch rauschhaften Klettergenusses. Normalerweise.
    Pablo aber spürte, dass Marielle noch nicht so weit war. Dass ihre früher so innige Beziehung zur Natur noch immer gestört war. Dass sie die Liebe zu den Bergen noch nicht wiedergefunden hatte. Dass sie gar nicht hinsehen wollte. Und er
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