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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels
Autoren: Stefan Koenig
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Fontasse« bis an den Stadtrand von Marseille und, nach Zaudern und Zögern bei Marielle, schließlich das Klettern in der Bucht En Vau.
    Diese wundervolle, einzigartige, geradezu unglaublich beeindruckende Bucht! Von »La Fontasse« führte ein guter Weg hinunter; er senkte sich allmählich hinab in ein Tal, wo das Meer nicht mehr zu sehen, ja nicht einmal mehr zu ahnen war. Nur Steine und Geröll (und natürlich Rosmarin) zur Rechten wie zur Linken. Doch dieses Tal wurde zum Canyon; zwischen dem lockeren Gestein zogen Felsrippen nach oben; für Kletterer vielleicht noch nicht allzu verlockend, aber doch schon ein Gelände, wo man vorsichtshalber das Seil würde benützen müssen. Und dann, nach der nächsten Talwindung, mutierte es endgültig zur Schlucht: steile Felswände ragten aus kleinsplittrigem Gesteinsschutt in den wolkenlosen Himmel; darunter, dem Wegrand nahe, reckten sich zwanzig bis vierzig Meter hohe Felsnadeln empor – beliebtes Ziel all jener Kletterer, denen die Höhe und die Länge einer Tour nicht wichtig waren, die sich begnügten mit diesen »kleinen« sportlichen Zielen.
    Bevor sie das Meer sahen, hörten sie es: die Mischung aus dem Geraune, wenn das Wasser über die Kiesel schwappte und sich gleich wieder zurückzog, und der verspielten Fröhlichkeit der Menschen, wie man sie überall an Stränden antrifft. Lautes Lachen, enthusiastisches Geplappere und Rufe, die zwischen den Felsen lauter hallten als anderswo. Und dann standen Marielle und Pablo in der Bucht, an der wie mit dem Lineal gezogenen Linie zwischen Land und Wasser. Blau und grün und vollkommen klar war das Meer. Und ein Stück draußen in dem schmalen Fjord lag ein Segelboot vor Anker.
     
    Als sie zum ersten Mal hierherkamen, warfen sie ihre Rucksäcke auf den Strand, setzten sich darauf und inspizierten die kolossalen Felsen, die das Wasser zu beiden Seiten rahmten. Linker Hand ragte der »Doigt de Dieu« in die Höhe – »der Finger Gottes«, sagte Marielle. Das rechte Ufer bestand aus einer kompakten Wand, in der es laut ihrem Führer unzählige Routen gab. Allein die Namen klangen verlockend – und durchaus ehrfurchtgebietend: »Éperon des Américains«, »Voie Super Calanque«, »Voie Hyper Calanque«, »Spécial Boucherie«, »Voie Hara-Kiri« und »Traversée Gary Hemming«.
    Sie entschieden sich für die leichtere »Voie Calanque« – ein Kletteranstieg im fünften Schwierigkeitsgrad, vier nicht allzu lange Seillängen, und um es Marielle noch leichter zu machen, würde Pablo alles vorsteigen. So hatte sie immer ein straffes Seil von oben, musste keine Angst haben, konnte sich ganz auf sich und das Klettern konzentrieren und dabei versuchen, wieder einen Rhythmus zu finden. Und wieder sich selbst zu finden.
    Auf einem Band von etwa einem Meter Breite querten sie von der Bucht aus ansteigend hinein in die Wand. Zwanzig Meter über dem Wasserspiegel begann ihre »Voie Calanque« am Stamm eines uralten, zähen, an den Fels geschmiegten Baumes. Das war der Standplatz. Von da ging es in einer kaminartigen Verschneidung geradlinig empor; nicht schwierig, für gute Kletterer eigentlich nur genussvoll.
    Aber der wahre Genuss setzte erst weiter oben ein. Da wurde der Fels kompakter, glatter und steiler. Es gab nicht mehr so viele Griffe und Tritte – die wenigen aber waren perfekt.
    »Wie eine Himmelsleiter!«, schrie Pablo zu Marielle herunter. »Einfach traumhaft!«
    Und was für eine Himmelsleiter! Als Marielle nachkletterte, fühlte sie das Vertrauen, das sie zum Fels hatte, immer gehabt hatte, sie spürte die harten Griffe in ihren Händen, sie begann, das Klettern wieder zu genießen – und wenn sie den Kopf leicht zur Seite neigte oder zwischen ihren gespreizten Beinen nach unten sah, dann schaute sie direkt ins smaragdgrüne Wasser und bis hinab auf den felsdurchsetzten Grund.
    Marielle spürte, dass sich in diesen Momenten etwas in ihr löste, das sich etwas zu befreien schien. In ihrer Seele wurde Platz für das Schöne. Und sie nahm die Eindrücke jetzt geradezu euphorisch auf. Was sie sah, machte sie glücklich: weißer Kalkfels, darüber der blaue Himmel und darunter das Meer, grün und rein und schön.
    Die »Voie Calanque« endete auf einer weitläufigen, einsamen, karstigen Hochfläche, dem Plateau de Castelvieil. Es sah hier aus wie überall in den Calanques: Steine, Rosmarin, Pinien, Steine. Dazwischen verkohlte Baumleichen. Und überall ein großartiger Blick auf das Mittelmeer.
    »Es müsste toll sein,
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