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Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Titel: Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
Autoren: Werner Toporski
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doch!«
    Aber ich kann nicht anders, ich muss heulen und vergrabe mein Gesicht in ihrer Schürze.
    Sie beugt sich zu mir herunter und auf einmal setzt sie ihr spitzbübisches Gesicht auf.
    »Wenn du weg bist«, sagt sie mir ins Ohr, »dann habe ich endlich Zeit, deinen Säufer zu verprügeln. So komme ich ja gar nicht dazu!«
    Mitten im Weinen muss ich plötzlich lachen. Überhaupt ist mir nach beidem zugleich zu Mute, ich freue mich und bin traurig, ich will nach Deutschland und ich will bleiben.
    »Und dort«, sagt Bożena unvermittelt, »dort kannst du ganz gewiss in die Schule gehen!«
    Nicht dass das all meine Widerstände außer Kraft setzen würde! Es bleibt dabei, dass ich Bożena liebe und dass ich unendlich gern hier gewesen bin. Aber gerade weil Bożena es sagt, hat dieses Argument so viel Gewicht.
    »Geh!«, sagt sie, zieht liebevoll an meinen Zöpfen und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
    »Komm!«, sagt Mama.
    Ich drücke Bożena noch einmal ganz fest, drücke Hanka und Piotr, Paweł und Danuta. Sagen kann ich nichts, ein Kloß sitzt mir im Halse. Mit beiden Händen winke ich im Fortgehen.
    Wie schön es hier war!, denke ich noch einmal.
    Und erst viel, viel später wird mir klar werden, dass ich es auf Polnisch gedacht habe.

Statt eines Nachworts:
    NACH FÜNFZIG JAHREN
    Wir sind am Ende einer langen Reihe von Gesprächen. Viele Wochen lang hat mir Lena – heute etwa sechzig Jahre, große Familie, Kinder alle aus dem Haus – ihre Geschichte erzählt. Bis zu dem Augenblick, wo sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern aus Polen ausgereist ist.
    »Und danach?«, frage ich, »warst du glücklich in Deutschland?«
    »Ich weiß nicht«, sagt sie zögernd. »Da gehen viele Gefühle durcheinander. Natürlich war ich irgendwie glücklich, dass jetzt keine Gefahren mehr auf mich lauerten, dass nicht irgendwo irgendwas über uns beschlossen werden konnte, dem wir dann ausgeliefert waren. Dass nicht die mühsam errungene Sicherheit, das kleine Eckchen Glück, in das man sich geflüchtet hatte, wieder in Frage gestellt werden konnte. Und natürlich waren da die schlimmen Erinnerungen an den Prügler, an die peitschenden Jungen, an die Miliz. Dahin zurück, das war erst einmal undenkbar.
    Aber da war auch das ganz andere, das sich, je mehr Zeit verging, immer stärker in den Vordergrund schob: die spontane und ganz unerwartete Hilfe durch die Dorfbevölkerung, die Freundlichkeit des Schreinerehepaars und vor allem natürlich Bożena und ihre ganze Familie.« Wie beiläufig fügt sie hinzu: »Bożena hat mir das Leben gerettet.«
    »Buchstäblich?«
    »Vielleicht sogar buchstäblich. – Ich weiß nicht, wie lange man eine solche Gratwanderung wie bei diesem brutalen Bauern aushält. Jeden Augenblick in Gefahr abzustürzen, immer in Habt-Acht-Stellung leben, bloß nicht auffallen. Und ständig sich unsichtbar machen müssen, nie wissen, wann der nächste Ausbruch erfolgt. Da war stets eine dumpfe Angst, auch wenn dieser Mann gar nicht in der Nähe war.«
    »Wie steht man das als Kind überhaupt durch?«
    »Damals habe ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht, da hieß es einfach durchkommen. Heute ist mir klar, dass ich das nur der Kraft zu verdanken habe, die ich in den Jahren zuvor in der Geborgenheit unserer Familie hatte gewinnen können. Die Art, wie wir aufwachsen durften, hat uns viel innere Freiheit vermittelt und die ist durchaus so etwas wie ein Schutzwall gegen äußere Macht.«
    »Ihr kamt nach Deutschland...«
    »Da war ich erst einmal kreuzunglücklich! – Wir vier kamen zunächst nach Thüringen, aber die anderen Geschwister waren ja in Süddeutschland! Also ging meine Mutter mit uns dreien heimlich über die Zonengrenze, und wieder fiel ich auf diesen Schleichwegen, diesen verbotenen Pfaden, zurück in das Gefühl der Bedrohung, in die Ungewissheit des Daseins wie in den ganzen letzten Jahren. Und als wir endlich in Bayern waren, da erwischten uns die Amerikaner, packten uns in ihren Jeep und steckten meine Mutter ins Gefängnis! Ich habe getobt wie kaum jemals, habe um mich geschlagen, ich habe die sogar gebissen! Ich war völlig außer mir. – Aber meine Patentante, die dort auf bayerischer Seite wohnte und zu der wir ja wollten, hat sich rührend um uns gekümmert. Da ging es dann ein bisschen.«
    »Wie lange war eure Mutter im Gefängnis?«
    »Vielleicht ein paar Wochen. – Ich weiß gar nicht mehr, wie sie dann hinterher all ihre Kinder eingesammelt hat. Eine kurze Zeit war ich mit
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