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Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Titel: Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
Autoren: Werner Toporski
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suchen? Meine Mutter hat das auch, glaube ich, ein wenig so empfunden.«
    »Und dafür hat man euch dann auch büßen lassen.«
    »Ja, aber da muss man sorgfältig unterscheiden. Es war zunächst einmal die Politik, die uns büßen lassen wollte und büßen ließ. Das war natürlich auch eine Antwort auf den Hass, den SS und Einsatzgruppen in Polen gesät hatten. In diesem Geiste handelte auch die Miliz, wobei man nicht übersehen darf, dass viele dieser Menschen selber Leid und Unrecht von den Deutschen erfahren hatten. Selbst bei jenem Bauern, unter dem ich so zu leiden hatte, bin ich nicht sicher, ob es für sein Verhalten nicht auch Ursachen dieser Art gab.
    Aber daneben gab es auch die vielen anderen, die uns geholfen haben und ohne die wir jene Zeit kaum hätten überstehen können. Ich denke heute noch mit Dankbarkeit an diese Menschen zurück.«
    »Auch Wacek...«
    »Ja, er ist das beste Beispiel für den Zwiespalt zwischen offiziellem Auftrag und dem Gebot der Menschlichkeit. Wacek war Kommunist und als solcher Mitglied der Miliz. Trotzdem schützte er meine Mutter, soweit es in seiner Macht stand, weil sie ihn zuvor stets gedeckt hatte. Meine Mutter war vom Kommunismus immer ein wenig fasziniert gewesen. Sie war wohl selber ein wenig ›revolutionär‹ gesinnt, hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und nahm stets Partei für benachteiligte Menschen.«
    »Und was bedeutet dir heute, nach so vielen Jahren, die Zeit in Polen?«
    »Viel! – Auch wenn ich lange gebraucht habe, mich ihr zu stellen, lange nicht darüber habe reden wollen. Selbst unter uns Geschwistern und mit meiner Mutter – wir haben nie darüber gesprochen, sind dem immer ausgewichen. Und der Wunsch, hinzufahren und nach den eigenen Spuren zu suchen, ist auch erst jetzt, als Folge der Gespräche mit dir entstanden.
    Aber viel von meiner Persönlichkeit ist dort geformt worden: meine Offenheit den Menschen gegenüber und meine Fähigkeit, sie rasch einzuschätzen. Das gilt auch für Situationen: Ich ›rieche‹ die Dinge sozusagen.«
    »Hat deine Kindheit in Polen auch dein Verhältnis zur Natur bestimmt?«
    Sie weist aus dem Fenster. Ein Grundstück mit altem Baumbestand am Rande einer nicht sehr großen Stadt. Spechte habe ich hier schon gesehen und Häher, und natürlich die ganzen Allerweltsvögel, die zu Dutzenden ihre Nester im Gesträuch haben. Bloß die zwei Enten vermisse ich, die im Sommer immer die Schnecken weggefressen haben.
    »Die hat der Marder geholt«, sagt sie traurig. Dann kommt sie noch einmal auf unser Thema zurück: »Bożena ist noch heute eine ganz wichtige Leitfigur für mich. Ihre Warmherzigkeit und ihre Fröhlichkeit! Auch etwas anderes ist für mich prägend gewesen: die Erfahrung, dass bittere Erlebnisse auch die positiven Kräfte stärken können. Und die Erfahrung, dass man über sich hinauswachsen kann! Wenn ich etwas sehe, von dem ich meine, dass es nicht so bleiben darf, Leid etwa, oder Ungerechtigkeit, dann kann es noch heute sein, dass ich nicht eher ruhe, als bis ich etwas verändert habe. Und das halte ich auch ziemlich lange durch.
    Und noch etwas ist mir geblieben: die Freude an den kleinen Dingen, die Dankbarkeit dafür.« Sie lacht wieder: »Brot mit Sahne …«
    »Was, würdest du sagen, ist das Entscheidende aus dieser Zeit?«
    »Die Menschen. Die Menschen, die uns geholfen haben. Ich habe dort erlebt, dass es immer wieder Männer und Frauen gibt – und gar nicht wenige -, die einfach wagen, das Richtige, das Gute zu tun, die sich der vorgegebenen Meinung widersetzen und auf ihr eigenes Urteil vertrauen. Wir alle verfallen so leicht unseren Klischees wie ›die Polen‹, ›die Ausländer‹ oder umgekehrt: ›die Deutschen‹. Und wie oft erleben wir, wenn wir dem Einzelnen gegenüberstehen, dass plötzlich alle Verallgemeinerungen hinfällig werden, ganz einfach falsch sind.
    Für mich zählt immer nur der Einzelne, nur das, was er denkt und was er tut.«

cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
    Verlagsgruppe Random House
     
     
    1. Auflage
    Erstmals als cbt Taschenbuch März 2007
    Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
    © 2002 cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Umschlagbild: Ullstein
lf · Herstellung: CZ
    eISBN : 978-3-641-01023-2
     
    www.cbj-verlag.de
    www.randomhouse.de
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