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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille
Autoren: Wulf Dorn
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Raimund Fleischer in gebückter Haltung da. Er sah Jan an und grinste.
    »Weißt du, was wirklich komisch ist?«, krächzte er und musste wieder husten.

    »Nein, sagen Sie es mir«, antwortete Jan mit monotoner Stimme.
    Fleischer wischte sich mit den schmutzigen Händen übers Gesicht. »Jetzt kennst du die Wahrheit, aber du kannst nichts damit anfangen. Du hast nichts gegen mich in der Hand. Ich kann alles abstreiten. Und wem wird man eher glauben: einem renommierten Psychiatrieprofessor oder einem jungen Heißsporn, der leicht seine Fassung verliert und Patienten tätlich angreift?«
    Fleischer lachte heiser auf. Doch er verstummte schlagartig, als Jan ihm die Waffe an die Schläfe drückte.
    »Sie haben eins nicht bedacht«, sagte Jan mit einer Stimme, die ihm selbst fremd klang. Oder war es seine tatsächliche Stimme, die sich viele Jahre lang tief in ihm verborgen und auf ihren Moment gewartet hatte? »Vielleicht will ich Sie gar nicht der Polizei übergeben. Vielleicht will Sie ja ganz für mich allein haben. Los, hinknien!«
    »Tu das nicht«, ächzte der Professor. »Mach dich nicht unglücklich, Junge!«
    »Auf die Knie!«
    Fleischer sank nieder. Vor Angst krampfte er die Hände in den mit Nadeln, Moos und modrigen Rindenstücken bedeckten Waldboden.
    Verwundert stellte Jan fest, wie die innere Leere sich jetzt mit einem Gefühl füllte. Einem berauschenden Gefühl. Er spürte die Macht, die er über den Mörder hatte. Dies war sein großer Moment. Jan fühlte die schwere Waffe in der Hand. Er atmete tief durch.
    »Nein«, keuchte Fleischer und stieß hektisch eine Reihe weißer Atemwölkchen hervor. »Bitte nicht. Noch können wir uns beide aus der …«
    »Ruhe!«, fuhr Jan ihn an, und der Professor verstummte
augenblicklich. »Sie haben sich getäuscht, Fleischer. Ich habe etwas gegen Sie in der Hand. Es ist nicht besonders groß, aber es genügt, um endlich unter alles einen Schlussstrich zu ziehen.«
    Für eine Weile sah Jan auf Fleischer hinab, der keuchend vor ihm kniete und auf den Schuss wartete. Er genoss den Moment, auf den er so viele Jahre gewartet hatte. Dann griff er mit der Linken in seine Jackentasche, holte das Diktiergerät hervor und hielt es dem Professor vors Gesicht.
    »Sie hätten vorhin im Bunker nachsehen sollen, warum ich in meine Jacke gegriffen habe.«
    Jan drückte die Stopptaste, und Fleischer zuckte zusammen, als hätte sich ein Schuss gelöst.

64
    Es war das seltsamste Begräbnis, das Hans Auer je erlebt hatte. Seit fast fünfundvierzig Jahren war er nun Totengräber auf dem Fahlenberger Friedhof und hatte schon so einige seltsame Dinge erlebt - bis hin zu einem Toten, der aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung in seinem Sarg zu furzen schien und den Pfarrer bei der Grabrede aus dem Konzept brachte. Doch die Beisetzung von Sven Forstner würde ihm mindestens ebenso in Erinnerung bleiben.
    Nicht nur, dass sich in dem Kindersarg kein Leichnam, sondern nur einige Schaufeln Waldboden befanden, auch die vier Trauergäste waren überaus sonderbar. Da war zum Beispiel Hubert Amstner, den Auer jahrelang
nicht bei Tageslicht zu Gesicht bekommen hatte. Oder der dicke Kröger, den Auer nur von Fotos aus dem Polizeibericht im Fahlenberger Boten kannte.
    Vor allem aber erstaunte ihn der Auftritt von Sven Forstners älterem Bruder Jan und der Frau an seiner Seite. Er ging an Krücken, und beide hatten die Köpfe bandagiert, als seien sie eine Abordnung aus dem Invalidenheim.
    Der alte Totengräber schüttelte den Kopf. Wie immer stand er in einigem Abstand zum Grab. An seinen Minibagger gelehnt, rauchte er eine Selbstgedrehte, lauschte mit halbem Ohr den Worten des Pfarrers und wartete auf seinen Einsatz, sobald die Trauernden die Grabstätte verlassen hatten.
    Ja, das Leben ist schon eine seltsame Sache, dachte er und blinzelte in den klaren blauen Himmel empor. Jeder Tag brachte etwas Neues. Das Leben war wie dieser herrlich blaue Himmel. Man konnte nie sagen, wann er sich wieder verdunkeln und Schnee herabwerfen würde. Deshalb war man klug beraten, jeden schönen Moment zu genießen, denn schon morgen konnte es dafür zu spät sein. Und wer sollte das schließlich besser wissen als ein Totengräber?
    Nachdem der Pfarrer mit dem Ministranten davongegangen war, starrte Jan noch eine Weile in die Grube auf Svens Sarg hinab.
    Vielleicht ist seine Asche jetzt da drin, dachte er. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat Fleischer mich angelogen .
    Früher hätten ihn diese Gedanken nicht
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