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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille
Autoren: Wulf Dorn
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das Sterben erleichtern sollen. Das letzte Geschenk, das die Natur uns macht, ehe sie uns in ihren Schoß zurückholt.
    Zu dieser frühen Stunde und vor allem bei diesen Wetterverhältnissen
würde kaum ein Mensch auf die Idee kommen, die abgelegene Waldstraße zu nutzen. Man würde ihn frühestens im Laufe des Vormittags finden, sobald der Räumdienst die Bundes- und Hauptstraßen von der Schneelast befreit hatte und die Nebenstrecken abfuhr. Aber dann würde es zu spät sein. Für Forstner und für Sven.
    Vor seinen Augen begannen Lichter zu tanzen. Zuerst schwach, dann immer stärker. Das grün-graue Netz der geborstenen Windschutzscheibe begann zu leuchten. Gleich würde er das helle Licht sehen, von dem Menschen immer wieder berichteten, die dem Tod in letzter Sekunde entkommen waren. Nur, dass er ihm nicht entkommen würde.
    Doch halt, nein! Diese Lichter waren keine Halluzination. Es waren keine Tricks seines Gehirns, um ihm das Sterben zu erleichtern. Diese Lichter waren echt! Es waren die Scheinwerfer eines herannahenden Wagens.
    Schon konnte Forstner das Brummen des Motors hören, gedämpft vom Schnee, aber dennoch real.
    Die Hoffnung verlieh ihm neue Kräfte. Forstner hob den Kopf, soweit es seine eingekeilte Position und die geschwächten Muskeln zuließen.
    Der Wagen steuerte vorsichtig auf ihn zu. Nun waren die rechteckigen Scheinwerfer gut erkennbar. Dann wurde der Motor abgestellt und das Licht ausgeschaltet.
    Eine neue Schmerzwelle durchfuhr Forstners Brust, doch seine Gedanken waren klar genug, um zu erkennen, dass irgendetwas mit dem anderen Wagen nicht stimmte.
    Warum schaltet er das Licht ab? Warum steigt er nicht aus?
    Da auf einmal strahlte ihm erneut Licht entgegen. Diesmal nicht von den Scheinwerfern, sondern von einer
einzelnen Lampe. Der Strahl war grell und kam schwankend auf ihn zu. Schritte näherten sich, gruben sich knirschend in den Schnee und endeten neben seiner Fahrertür. Forstner vermochte nicht, den Kopf zu drehen. Er benötigte alle Kraft, um zu sprechen.
    »Bitte … helfen Sie … meinem Sohn.«
    Der Mann neben ihm - denn nach den Schritten zu urteilen, schien es sich um einen Mann zu handeln - sagte nichts. Stattdessen hörte Forstner, wie er einen Handschuh abstreifte, und spürte, wie er den Puls seiner Halsschlagader berührte.
    »Bitte …«, keuchte Forstner. Er hob kurz den Kopf, doch er sank ihm gleich wieder auf die Brust, ohne dass Forstner etwas dagegen tun konnte. Lichtflecken, diesmal eindeutig halluzinatorischer Natur, tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern.
    Der Fremde entfernte sich. Er ging um den Wagen herum und zerrte an der rechten Hintertür. Doch die gesamte Karosserie war viel zu verzogen, als dass sie sich öffnen ließ. Forstner hörte mehrere dumpfe Schläge, ehe die Scheibe zerbarst. Etwas Glattes rieb am Stoffbezug der Rücksitzbank, und für einen irrwitzigen Augenblick sah Forstner das Bild seiner ledernen Aktentasche vor sich.
    Dann kamen die Schritte zu ihm zurück. Wieder fühlte der andere Forstners Puls.
    Bernhard Forstner fehlte die Kraft, noch einmal den Kopf zu heben. Er hatte Mühe zu atmen und hörte ein Rasseln in seiner Brust, die sich inzwischen ebenso taub wie sein übriger Körper anfühlte. Dennoch war sein Verstand klar genug, zu erkennen, wer der Mann neben ihm war.
    Mit letzter Anstrengung sprach Forstner den Namen seines Sohnes aus. »Was … ist … mit ihm?«

    Jedes seiner Worte wurde von einem warmen Blutschwall begleitet, der seinen Mund mit bitterem Kupfergeschmack füllte.
    »Pssst!«, zischte ihm der Mann zu. »Es ist gleich vorbei.«
    Das letzte große Gefühl in Bernhard Forstners Leben war hilflose Wut.
    »Der Teufel … soll … dich holen!«
    Er spürte die Gegenwart des anderen dicht neben sich. Hörte sein Flüstern.
    »Er hat mich längst geholt.«
    Dann wurde es für immer dunkel.

1
    Dreiundzwanzig Jahre später
    Die Stille in dem großen Büro war unerträglich. Nur das Heulen des Novemberwinds war von jenseits des großen Doppelfensters zu hören. Frost und Schnee verheißend, pfiff er durch das Parkgelände der Waldklinik, fegte die letzten Blätter von den Bäumen und zerrte an den Fensterläden des Altbaus.
    Jan Forstner bemühte sich, seine Unruhe zu verbergen - dieses schleichende Unbehagen, das ihn stets befiel, wenn es um ihn herum so still wurde, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
    Stille rief schlimme Erinnerungen hervor, ganz gleich, wie sehr sich Jan dagegen sträubte.
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