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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille
Autoren: Wulf Dorn
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Wenn es still war, kamen Bilder in ihm hoch, die ihn schaudern ließen.
    Nacht. Schnee. Der menschenleere Park …
    Wäre er jetzt zu Hause oder mit dem Auto unterwegs gewesen, hätte er das Radio eingeschaltet. Irgendeinen Sender. Hauptsache Stimmen und Musik, die der Stille ein Ende setzten.
    Doch hier, in Prof. Dr. Raimund Fleischers Büro, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf einen Trick zurückzugreifen, der sich in solchen Situationen schon mehrmals bewährt hatte. Jan rief sich eine eingängige Melodie in Erinnerung - die nächstbeste, die ihm in den Sinn kam. Der Trick bestand darin, sich ganz und gar auf die Musik zu konzentrieren, bis er glaubte, sie tatsächlich im Raum zu hören. Diesmal war es »Clocks«, ein Stück von Coldplay,
das im Radio gelaufen war, als Jan auf den Besucherparkplatz des Verwaltungsgebäudes gefahren war. Das Ablenkungsmanöver gelang leichter als gedacht. Die sich ständig wiederholenden Klavierakkorde und der stampfende Rhythmus hallten in Jans Kopf nach, und die Erinnerungen verschwanden.
    Fleischer schien von alldem nichts mitzubekommen. Mit entrücktem Gesichtsausdruck saß der leitende ärztliche Direktor in seinem Ledersessel und studierte Jans Unterlagen, als wollte er jedes Detail darin auswendig lernen. Ein Anblick, der Jan an seinen Vater erinnerte, wenn er spätabends in seinem Arbeitszimmer gesessen, Akten durchgeblättert und Berichte diktiert hatte.
    Wenn man erwachsen ist, erscheint einem vieles kleiner als in Kindheitserinnerungen, doch Fleischer bildete für Jan eine Ausnahme. Noch immer war der Professor für ihn ein Hüne. Der graue Kaschmirpullover spannte ein wenig an den breiten Schultern und verriet einen durchtrainierten Körper. Anders als die meisten Professoren, die Jan bisher kennengelernt hatte, schien Fleischer viel Wert auf Sport und eine ausgewogene Ernährung zu legen. Der Psychiater hatte die fünfzig längst überschritten, wirkte aber entschieden jünger. Sicherlich lag dies auch an seinem dichten graumelierten Haar, das er mit Frisiercreme zu bändigen versuchte. Mit seinen markanten Gesichtszügen, den breiten Wangenknochen, der Denkerfalte zwischen den buschigen Brauen und der großen Lesebrille erinnerte er Jan an Gregory Peck als Atticus Finch in dem Filmklassiker Wer die Nachtigall stört . Im Fall einer Neuverfilmung hätte Fleischer sicherlich beste Chancen auf die Hauptrolle gehabt.
    Jan ließ den Blick durch das geräumige Büro wandern. In die Wand zur Rechten war ein Bücherregal eingelassen,
das von oben bis unten mit medizinischer Fachliteratur und einigen Jahrgängen der Psychiatrischen Praxis gefüllt war. Die gegenüberliegende Seite des Raums nahm ein polierter Besprechungstisch ein, auf dem eine voluminöse Vase mit frischen Schnittblumen thronte. Die Wand dahinter zierte ein großformatiges abstraktes Gemälde, in dem Gelb- und Rottöne dominierten. Daneben hingen mehrere gerahmte Urkunden und Fotos.
    Die meisten dieser Fotos zeigten Fleischer bei feierlichen Anlässen und Kongressen. Ganz unten hing eine deutlich ältere Aufnahme, auf der eine Gruppe junger Menschen dem Betrachter entgegenstrahlte. Jeder von ihnen hatte den Ausdruck im Gesicht, der typisch ist für Schüler auf Abschlussfotos - Erleichterung und Stolz, es geschafft zu haben, und Neugier auf das, was die Zukunft bringen wird. Jan konnte Fleischer sofort in der Gruppe ausmachen. Er überragte die Mitschüler in seiner Reihe um mindestens eine Kopflänge. Schon damals trug er sein dichtes Haar streng frisiert, nur seine Statur war um einiges hagerer als heute.
    Am äußeren Rand der kleinen Galerie fanden sich zwei Familienfotos, die in einem Doppelrahmen gefasst waren. Auf dem älteren spielten zwei kleine Mädchen im Sand, während sich das Elternpaar in Liegestühlen sonnte und dem unsichtbaren Fotografen zuwinkte. Auf dem anderen Foto nahmen zwei hübsche junge Frauen ihren Vater in die Mitte und legten lachend ihre Köpfe an seine Brust.
    »Mein ganzer Stolz«, sagte Fleischer, und erst jetzt merkte Jan, dass der Professor ihn beobachtet hatte. »Die ältere ist Livia. Ihre Schwester haben wir nach ihrer Großmutter benannt. Annabelle. Sie wird uns demnächst selbst zu Großeltern machen.«

    Jan erwiderte sein Lächeln. »Aus Kindern werden Leute.«
    Ein besserer Kommentar fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein. Für Smalltalk war er viel zu aufgeregt, denn wie auch immer das Ergebnis dieser Unterhaltung ausfiel, es würde über Jans weiteren
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