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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille
Autoren: Wulf Dorn
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zwölftausend Fälle von Kindesmissbrauch registriert, eine unfassbare Zahl, und die Dunkelziffer wird weitaus höher geschätzt. Doch ebenso unfassbar ist, dass nur etwa achtzig Prozent dieser Fälle aufgeklärt werden.«

    Jan spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er fühlte sich unwohler denn je. Am liebsten wäre er aufgestanden und hinausgerannt, doch das hätte das endgültige Aus für seine Karriere bedeutet. Dies war seine Chance auf einen Neuanfang - und alles, was er dafür tun musste, war, Fleischer gegenüber Ehrlichkeit zu zeigen.
    Der Klinikleiter schien Jans Gedanken gelesen zu haben. Er sah ihn verständnisvoll an und nickte aufmunternd.
    Jan atmete tief durch, ehe er fortfuhr. »Irgendwo in dieser Statistik befindet sich der Fall meines kleinen Bruders, von dem man nie mehr fand als seine …«, Jan schluckte, »seine Unterwäsche auf einem Autobahnparkplatz. Weder der Täter noch …«, wieder musste Jan schlucken, »noch Svens Leiche wurden je ausfindig gemacht. Und was mit meiner übrigen Familie geschehen ist, wissen Sie ja.«
    Betreten sah Fleischer aus dem Fenster in den bleigrauen Himmel.
    »Ja, das weiß ich. Und es tut mir alles aufrichtig leid für Sie.«
    »Ich habe nach Antworten gesucht«, sagte Jan. »Also habe ich mit Sexualstraftätern gesprochen. Es waren fast ausschließlich Männer. Sie stammten aus allen Bevölkerungsschichten. Lehrer, Handwerker, Arbeitslose, Alkoholiker, Priester, einmal sogar ein Psychiater. Dabei machte ich die Beobachtung, dass alle Täter zwei Dinge gemein hatten. Einerseits hatten sich alle zu ihren Opfern hingezogen gefühlt. Sie sprachen von Liebe und inniger Zuneigung, wobei sie andererseits keinerlei Skrupel gehabt hatten, ihre Opfer aus Furcht vor Entdeckung zu töten.« Jan zuckte mit den Schultern. »Aus psychiatrischer
Sicht waren bei den meisten eine starke Triebhaftigkeit und ein durchgängiges Verhaltensmuster hinsichtlich ihrer mangelnden Schuldeinsicht erkennbar, was man als Antwort hätte akzeptieren können. Doch für mich persönlich habe ich nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden. Nicht in Svens Fall. Er ist und bleibt verschwunden.«
    Nun war es heraus. Jan spürte, wie seine Anspannung ein wenig nachließ. Er hatte es endlich geschafft, über das düsterste Kapitel seines Lebens zu sprechen, auch wenn er sich dabei wie ein Referent angehört haben mochte.
    »Mein Vater hat einmal gesagt, das Leben stellt uns manchmal Fragen, auf die es keine Antworten gibt«, fügte er hinzu. »Ich habe mich lange nicht damit abfinden können, aber inzwischen denke ich, dass er Recht damit hatte. Wenn Sie so wollen, ist das das Ergebnis meiner Suche.«
    Für einen Moment herrschte wieder die für Jan unerträgliche Stille. Dann löste Fleischer den Blick vom Fenster und sah ihn an.
    »Auf dieser Suche haben Sie sich weit vorgewagt, Jan. Das war überaus mutig, wenngleich Sie am Ende über Ihr Ziel hinausgeschossen zu sein scheinen.«
    Nun waren sie also beim zweiten großen Thema angelangt: Jans Zusammenbruch. Der Grund, warum er beinahe seine Approbation verloren hatte. Davon hing nun alles ab. Fleischer die Hintergründe seines Werdegangs offenzulegen war das eine gewesen. Ob er ihn nun davon überzeugen konnte, dass er aus seinen Fehlern gelernt hatte, stand auf einem anderen Blatt.
    »Vor knapp einem Jahr stand ich unter einer starken psychischen Belastung, was ich mir zu jenem Zeitpunkt
jedoch nicht eingestehen wollte«, erklärte Jan. »Meine Tätigkeiten als forensischer Gutachter und Stationsarzt lasteten mich völlig aus, aber ich sah darin eine berufliche Herausforderung und hatte zudem gute Chancen auf eine Oberarztstelle, die bald frei werden sollte. An manchen Tagen arbeitete ich fast rund um die Uhr. Kurz zuvor hatte meine Frau die Scheidung eingereicht, und ich hatte ihr zugesagt, mich nach einem Käufer für unsere gemeinsame Wohnung umzusehen. Als ich dann auch noch den Fall Laszinski übernahm, wurde mir alles zu viel. Leider habe ich das erst begriffen, als alles schon passiert war.«
    »Laszinski«, sagte Fleischer und verzog das Gesicht. »Eine hässliche Geschichte.«
    In der Tat. Der Fall Peter Laszinski hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Ein gefundenes Fressen für die Medien.
    Bis zu seiner Verhaftung hatte der sechsundvierzigjährige Küster ein unscheinbares Leben in einer kleinen Gemeinde geführt. Er galt als höflich, wenn auch verschlossen, und die Tatsache, dass er trotz seines Alters noch immer
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